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Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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merkwürdig still, als Addie wenige Tage später behauptete, ein Cuvier-Goldhähnchen gesehen zu haben. Einen Vogel, den niemand außer John James Audubon (vorausgesetzt, er hatte die Wahrheit gesagt) jemals zuvor gesehen hatte. Ein hübsches kleines Tier, das in seiner Erscheinung sehr stark dem Rubingoldhähnchen ähnelte, abgesehen von einem Streifen auf dem Kopf, der, wie Addie beharrlich betonte, mehr an den des Indianergoldhähnchens erinnerte. Tom schwieg weiter, als Addie daraufhin forderte, den Status dieser Spezies zu ändern, von »längst ausgestorben« oder – in der Einschätzung der meisten Leute – »Mythos« auf »hypothetisch«: eine Art, deren Existenz in einer gegebenen Region aufgrund eines fehlenden verfügbaren Exemplars, sozusagen einem »Vogel in der Hand«, bislang nicht nachgewiesen wurde. Aber eben auch ein Tier, dessen Sichtung durch einen hinreichend ernstzunehmenden Beobachter seine Aufnahme in offizielle Listen als mögliche oder hypothetisch vorhandene Spezies rechtfertigt.
    Interessanterweise hatte Addie das Cuvier-Goldhähnchen auf der Hügelkette oberhalb des Nisky Creek laut eigener Aussage genau am Morgen nach dem Tag gesehen, an dem Bert Schafer dem Burnham College ein unwiderstehliches Angebot für einhundertzwanzig Hektar Land in Collegebesitz, einschließlich ebendieser Hügelkette, gemacht hatte. Dort plante
er die Errichtung seiner bisher größten Wohnsiedlung einschließlich eines »Mini-Einkaufszentrums« mit Supermarkt und mehreren weiteren Geschäften. Addies und Toms Hoffnung – eine schwache natürlich nur – bestand darin, die Collegeverwaltung so sehr zu beschämen, dass sie dem Verkauf dieses Grundstücks, oder zumindest des Teils unmittelbar am Nisky Creek, widerstünde, weil durch Schafers Bauvorhaben eine oder sogar zwei seltene Vogelarten gefährdet würden.
    Und schließlich, am Nachmittag des 11. September, kehrte Bobby in Scarlets Leben zurück. Dieses Mal klopfte er an ihre Wohnungstür, zitternd und unter Schock. Er sei an jenem Tag nicht zur Arbeit gegangen, erzählte er ihr, immer wieder von heftigem Schluchzen unterbrochen. Um genau zu sein hatte man ihn eine Woche zuvor gefeuert. Er war auf dem Weg ins Büro gewesen, um seine Sachen abzuholen, und gerade ein paar Blocks vom World Trade Center entfernt aus der U-Bahnstation gekommen, als die Explosionen passierten und die Welt um ihn herum zusammenstürzte und es Tod und Asche regnete.
    Scarlet erfuhr auch, dass Cynthia ihn aus dem Haus geworfen hatte. Dass er bei Freunden auf der Upper West Side wohnte, nur zwei Blocks von ihrer Wohnung entfernt, seit er seinen Job verloren hatte. Und dass er zum ersten Mal in dieser Woche mehrere Stunden am Stück nüchtern war.
    Er erzählte Scarlet diese Dinge an jenem Nachmittag, während sie ihn unter einem Stapel Decken in ihrem Bett im Arm hielt und versuchte, sein unkontrollierbares Zittern zu lindern. »Ich weiß nicht, wo ich hinsoll«, hatte er gesagt, als sie die Tür öffnete und er dort vor ihr stand, bedeckt von Staub und Asche. »Und mir ist so kalt. Kann ich bitte wenigstens so lange reinkommen, bis mir wieder warm ist?«
    Der Tag draußen war mild und sonnig. Obwohl um diese
Zeit der beißende Rauchgeruch bereits unterwegs nach Manhattan war, auf Scarlets Haus zu.
    Stunden später, als Bobby endlich schlief, stellte Scarlet den Fernseher an, wie jeder andere Mensch im Land (außer Tom und Addie, die zu diesem Zeitpunkt verzweifelt versuchten, Scarlet über die hoffnungslos überlasteten New Yorker Telefonleitungen zu erreichen), und sah sich die Bilder der in die Türme rasenden und explodierenden Flugzeuge – und der Körper, die aus hohen Fenstern flogen und durch die Luft schwebten wie traurige schwarze Vögel – immer und immer wieder an.

V
Gedankenspiele

Achtzehn
    MAI 2002
    Toms Hände, die das große Metalllenkrad des Kühlwagens des Cider Cove Seafood House umklammern, sind Scarlet tröstlich vertraut. Als sie den Blick auf ihre eigenen Hände senkt, fällt ihr plötzlich die Ähnlichkeit auf – dieselben langen, knochigen Finger mit schmalen, stumpfen Nägeln.
    »Wem, findest du, sehe ich ähnlich?«, fragt sie. »Addie sagte immer, Oma Sturmer in jungen Jahren, aber größer. Ich kann das nie erkennen, wenn ich mir Bilder ansehe. Glaubst du, ich schlage nach jemandem aus deiner Familie?« Aus Toms Verwandtschaft hat sie nur einmal eine Tante kennengelernt, eine seiner älteren Schwestern. Eine winzige, weißhaarige Frau, die

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