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Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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kannst dir nicht vorstellen, wie es da draußen ist, da unten…«
    »O mein Gott.« Sie zog ihn in ihre Wohnung und führte ihn zum Sofa. »Bobby, warst du dort?«
    Er sah sie an, dann schloss er die Augen und schüttelte den Kopf, während ihm die Tränen über das Gesicht strömten.

    »Ich war drei Blocks entfernt.« Die Worte waren nur ein Flüstern, gequält und verzweifelt. »Ich kam gerade aus der U-Bahn hoch.«
    Dann öffnete er die Augen wieder und nahm ihre Hände. »Ich wollte hin, nach Leuten suchen – alle meine Kollegen müssen dort gewesen sein, im 101. Stock.« Erneut verzog er das Gesicht und erschauerte. »Sie haben keinen auch nur in die Nähe gelassen. ›Laufen Sie einfach weiter‹, haben sie gesagt. ›Immer Richtung Norden.‹«
    Noch einmal überlief ihn ein Schauer, sein gesamter Körper bebte. Da erst bemerkte sie, wie dünn er war. Und ihr fiel auf, dass er gar nicht passend für einen Job im 101. Stock des World Trade Center gekleidet war, mit dem Flanellhemd und der zerrissenen Jeans unter seinem schicken Bankermantel, der viel zu schwer für einen warmen Septembertag war. Hatte er irgendwie geahnt, dass ihm kalt werden würde?, fragte sie sich. So kalt, dass nichts ihn wärmen könnte, den ganzen Tag lang nicht und auch nicht den nächsten?
    »Ich bin einfach losgelaufen, zusammen mit all den anderen, einfach nur gelaufen und gelaufen, nach Norden, möglichst schnell. An der Varick Street, Ecke Canal Street waren die Leute stehen geblieben. Sie sahen sich nach den Türmen um.«
    An dieser Stelle hielt er kurz inne. Die ganze Zeit hatte er beim Sprechen die Augen geschlossen, doch nun quetschte er sie noch fester zusammen, und Scarlets Magen verkrampfte sich, sie wusste, was jetzt kam. Sie hatte den ganzen Tag gebannt in den Fernseher gestarrt.
    »Als ich mich umdrehte, sah ich drei Menschen, die nach unten schwebten … Es schien ewig zu dauern, bis sie unten ankamen. « Jetzt schlug er die Augen auf und sah Scarlet unverwandt an. »Ich habe keine Ahnung, wie lange ich dort stand.«
Er wirkte erschüttert und starrte sie immer weiter an, obwohl sie den Eindruck hatte, er sähe eigentlich etwas anderes oder auch jemand anderen. Schwebende Körper? Richard?
    Sie streckte die Hände nach ihm aus. »Oh, Bobby.« Nun weinte sie ebenfalls, als sie seinen Kopf an ihre Brust zog. Sie flocht ihre Finger in sein schmutziges, zerzaustes Haar und wiegte ihn. »Warum musstest du etwas so Schreckliches mit ansehen?« Er schlang die Arme um ihre Taille und umklammerte sie so fest, dass sie kaum noch Luft bekam.
    »Ich wusste, dass du in diesem Haus wohnst«, sagte er. »Ich bin oft vorbeigelaufen, habe mich aber nie getraut zu klingeln. « Er weinte immer noch, seine Stimme und sein Atem klangen rau, abgerissen. »Ich wusste nicht, wohin ich sonst gehen sollte.«
    »Sch-sch.« Sie streichelte sein Haar, seine feuchten Wangen. »Natürlich bist du zu mir gekommen. Ich habe auf dich gewartet. «
    Sie hatte keine Ahnung, woher dieser Satz kam. Und doch fühlte er sich, als sie ihn sagte, so eindeutig und unleugbar ehrlich an, dass sie verblüfft war. Er hob den Kopf, und sehr lange sahen sie einander an. Schließlich küsste er sie, und sein Mund war so warm und vertraut, dass Scarlet einen Moment vergaß, wo sie war. Ein Zittern durchlief sie, und er zog seinen Mantel aus und wickelte sie beide darin ein.
    Zusammengekuschelt legten sie sich auf Scarlets Sofa. Ab und zu sprachen sie, flüsternd wie Kinder – oder wie damals als Jugendliche im alten Cider Cove Diner –, über ihr Leben in den vergangenen fünf Jahren seit ihrer letzten Begegnung. Und dann schwiegen sie wieder lange, lauschten nur ihrem Atem, sahen das Licht vor den Fenstern schwinden, ob nun vom Einbruch der Nacht oder vom Ruß- und Ascheregen hätten sie nicht sagen können.

    Irgendwann später heizte Scarlet das Badezimmer ein, so gut sie konnte, indem sie das dampfende Wasser einfach zehn Minuten lang laufen ließ. In dem kleinen, heißen Raum zog sie Bobby und sich langsam aus, dann stieg sie mit ihm in die Dusche, wo sie ihm den Staub von Gesicht und Haaren wusch. Hin und wieder unterbrach er sie, nahm ihre Hand, hielt sie sich an die Wange, an den Mund.
    Später, als sie ihm die Haare trocknete und kämmte, während er am Küchentisch saß und einen Laib Brot aufschnitt, entdeckte sie zu ihrem Schrecken graue Strähnen, die gar nicht von der Asche herrührten. Erst da ließ sie den Gedanken zu: Sie waren keine Jugendlichen

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