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Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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für das Kommende.
    »Addie machte sich Sorgen, weißt du, dass sie dich möglicherweise davon abgebracht haben könnte, zu heiraten oder Kinder zu bekommen«, sagt Cora, als sie ein paar Tropfen Milch weggewischt hat. »An dem Abend, als wir drei uns unterhalten haben, hat sie am Ende geweint – na ja, das haben wir natürlich alle. Lou hatte einen kleinen Zusammenbruch … du weißt ja, wie es ihr mit ihren Töchtern geht, sie ist so fest davon überzeugt, dass sie ihr die Schuld an allem geben.«
    Woher, fragt sich Scarlet, weiß Cora nur immer, was sie wirklich denkt? Das macht sie nun schon seit Jahren, begrüßt Scarlet nach der langen Autofahrt und einigen Stunden Schlaf mit einer frischen Kanne Kaffee am Frühstückstisch und bald darauf mit einer scheinbar unschuldigen und indirekten Bemerkung, die in Wahrheit als gezielte Frage gemeint war.
    Doch Addie ist erst seit sieben Stunden tot, und Scarlet hat höchstens drei geschlafen. Obwohl sie sich gerade eben selbst an das Thema herangeschlichen hat, ist sie noch nicht bereit, denkt sie jetzt, sich mit Dingen wie Addies Ängsten um ihretwillen zu befassen. Oder damit, was Addies Leben sie über Liebe oder Ehe oder ein eigenes Kind gelehrt haben mag. Sie kann die Fragen, die sie stellen muss, nicht stellen, und sie kann auch Coras Fragen nicht beantworten. Noch nicht.

    Stattdessen also fragt sie Cora etwas anderes, wenngleich sie auch hier die Reaktion fürchtet. »Und weswegen hast du geweint, an dem Abend mit Lou und Addie?«
    Lange sieht Cora Scarlet unverwandt an. Dann wedelt sie mit der Hand vor dem Gesicht und wendet ihren Blick dem Fenster zu. »Nicht, was du erwarten würdest, Scarlet«, sagt sie. »Ich habe geweint, weil wunderschöne junge Mädchen aufwachsen und alt werden. Ist das nicht albern? Ich sehe meine Enkelinnen an, und sie sind einfach wundervoll. Bobbys Mädchen sind jetzt acht und fünf. Kannst du das fassen?«
    Scarlet zieht mit vorgetäuschtem Erstaunen eine Augenbraue hoch, obwohl sie genau weiß, wie alt die Kinder sind.
    »Sie erinnern mich an dich«, fährt Cora fort. »Natürlich sind sie jünger als du damals, als du zum ersten Mal mit Addie und Tom herkamst, aber zumindest Lindsey hat jetzt schon Ähnlichkeit mit dir. Sie ist groß und schlank, wie du es warst, mit demselben wilden, langen Haar. Ich könnte ihr stundenlang einfach nur beim Laufen zusehen, genau wie dir früher. Junge Mädchen sind wie Fohlen. Still und wachsam, rastlos unter der oberflächlichen Ruhe. Rastlos und jederzeit bereit auszubrechen.
    Und an diesem Abend dachte ich zum ersten Mal – kannst du das glauben? –, ich dachte, mein Gott, wir waren auch mal so, und es kommt mir vor wie gestern erst, und jetzt liegt Addie hier in meinem Haus, in diesem riesigen Krankenhausbett in meiner Werkstatt, und sie stirbt . Und ich dachte, Wie kann das sein? Wir waren so jung, so glücklich, wir streiften durch den Wald und ritten auf Pferden und küssten unsere Freunde im Mondschein. Und dann schien Addie plötzlich einen Sprung nach vorn zu machen – ich meine, sie war immer so leidenschaftlich und tiefgründig, aber dann zack, tat sie etwas so sehr, sehr Erwachsenes, verliebte sich in Tom und zog
mit ihm zusammen. Und ehe wir’s uns versahen, machten wir es alle – heiraten, Familien gründen, Häuser kaufen, das volle Programm –, vergruben uns in Arbeit und Schulden, sorgten für die Kinder…«
    Ihre Stimme bricht kaum hörbar, und sie hält inne. Scarlet nimmt ihre Hand, doch Cora überlässt sie ihr nur einen kurzen Moment, dann zieht sie sie weg und spricht weiter. »Und die ganze Zeit, durch all diese Schwierigkeiten hindurch, die uns andere aufzehrten, blieb Addie so leidenschaftlich wie eh und je. Oh, ich weiß, sie hatte ihre schlechten Phasen. Aber nie verlor sie dieses Feuer und die Wut, die in ihr zu lodern schien und sie in Bewegung hielt.«
    »Weißt du noch, wie Lou einmal zu ihr sagte, sie hätte Baptistenpredigerin werden sollen?«, wirft Scarlet ein, und sie müssen beide kurz bei dieser Erinnerung lachen, dann wird Cora wieder ernst. Sie schweigt und blickt aus dem Fenster. Ein solches Morgenlicht schmeichelt niemandem, aber Coras Gesicht ist mit dem Alter schöner geworden. Seine Konturen verraten Tiefe und Entschlossenheit, aber da ist auch eine Sanftheit, und die vergeht nie. Addie hatte dieselbe Sanftheit, erkennt Scarlet unvermittelt, und es trifft sie wie ein stechender Schmerz. Es war nur manchmal schwer, sie zu entdecken.
    »Weißt

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