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Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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nichts mit traditionellen Behandlungsmethoden zu tun haben, sagte sie. Keine Chemotherapie, gar nichts. Trotz der Zeit, die sie dadurch gewinnen konnte. Keine Gegenwehr mehr gegen die Zellen, die überall in ihr explodierten, schnell und blindwütig wuchsen – ihre eigene innerliche Zersiedelung.
    »Ich habe schon zu viele Gifte in mir«, sagte sie mit klarer und gleichmäßiger Stimme an jenem Tag vor acht Monaten in der Praxis ihres Onkologen. »Schluss damit.« Und damit stand sie auf und ging, überließ es Tom und Scarlet, dem braven Arzt für seine Empfehlung einer weiteren Runde intensiver Chemotherapie zu danken und die Köpfe zu schütteln. Nein, nein – sie würden nicht versuchen, sie zu überzeugen. Nicht dieses Mal. Nein.
    Dreizehn Jahre vorher hatten sie zusammen in derselben Praxis gesessen, zwischen der Chemotherapie und der Bestrahlung. Addie – blass und schmal und kahl, jünger als ihre fünfundvierzig Jahre aussehend – war eine eindrucksvolle Erscheinung. Erschrocken stellte Scarlet fest, dass der Onkologe beinahe Angst vor ihr zu haben schien.
    Addies dunkle Augen blitzten auf, doch damals sagte sie kein Wort, als der Arzt ihr dringend riet, »auf Nummer sicher zu gehen« – sprich Bestrahlung, gefolgt von einer Hormontherapie: die nächsten fünf Jahre lang täglich eine Tamoxifentablette.
    Tom nahm ihre Hand und küsste sie auf beide Wangen. »Ich weiß, dass du das furchtbar findest, Addie. Aber bitte, mein Liebling, lass es uns probieren. Bitte.«
    » Uns? «, blaffte sie. »Lass es uns probieren? Wer genau ist wir ?«

    Und dann konnte Scarlet sich nicht mehr beherrschen: Sie begann zu weinen. Nein, zu schluchzen. Die Chemotherapie hatte Addie schon so schlecht vertragen. Darauf aber hatten Scarlet und Tom bestanden, hatten Addies Vorschlag, erst einmal alternative Therapien zu prüfen, gar nicht anhören wollen. Aber was sollten sie denn tun, hatte Scarlet sich damals gefragt. Dasitzen und zusehen, wie sie starb ?
    Addie konnte noch nie ertragen, Scarlet weinen zu sehen. Seit ihrem vierten oder fünften Lebensjahr hatte sie es nur selten in Gegenwart ihrer Mutter getan.
    »Es tut mir leid«, wimmerte Scarlet, in ihrer Handtasche nach Taschentüchern tastend. »Es tut mir leid, Addie.« Etwas anderes fiel ihr nicht ein.
    Addie sah Scarlet an, klappte den Mund auf, als wollte sie etwas sagen, und schloss ihn dann wieder.
    »In Ordnung.« Ihre Stimme klang heiser. Müde. »Gut, in Ordnung.« Sie sammelte ihre Sachen zusammen – ihre Tasche, das Buch, das sie gerade las, ihre Jacke. »Ich tue alles, was Sie sagen. Wir melden uns telefonisch, um einen Termin zu vereinbaren. Im Moment bin ich müde. Ich muss nach Hause.«
    Und nach wortlosem Händeschütteln mit dem Arzt folgten Scarlet und Tom ihr aus der Praxis.
    Sie ließ sich bestrahlen und nahm Tamoxifen.
    Und heute wissen sie alle, dass zusätzliche Hormone – eine sogenannte adjuvante Therapie – in manchen Fällen zu Veränderungen in der Gebärmutterwand führen. Der Stelle, an der Addies Krebs als Nächstes auftauchte.
    Ach, aber Addie, hat Scarlet sich so viele Male ausgemalt, zu ihr zu sagen: Wir haben doch nur getan, was wir für richtig hielten. Ein paar fette Bomben abgeworfen, um diese Zersiedelung in deinem Gewebe zu sprengen. Dann eine Tablette pro Tag, um die Einkaufszentren und Wal-Marts und Drivein-Apotheken
in deinen Lymphknoten zurückzudrängen. Damals hörte sich das alles so vernünftig an.
    Und dann stellte sie sich Addies Antwort vor: Klar. Ungefähr wie Hiroshima.
    Vor zwei Wochen sprachen sie tatsächlich kurz über das Tamoxifen, bei Scarlets letztem Besuch vor diesen Tagen, in denen sich alle zu Addies bevorstehendem Tod wieder in Cider Cove versammelten. »Ich mache euch deswegen keinen Vorwurf«, sagte Addie damals zu Scarlet und Tom. »Ich habe die ganze Zeit meine eigenen Entscheidungen getroffen. Ich habe die blöde Tablette jeden Tag genommen. Niemand hat mir eine Pistole an den Kopf gehalten. Ich habe mir einfach ein Glas Wasser eingegossen und das Ding geschluckt. Natürlich wollte ich damals dagegen kämpfen, natürlich wollte ich tun, was sie sagten. Es ist doch alles ganz einfach, oder? Man weiß nicht, was man sonst tun soll. Man nimmt an, dass sie wissen, was das Beste ist. Man folgt Anweisungen.«
    »Und dann stirbt man«, sagte Tom. Und sie lachten alle.
    »Genau. Wenig überraschend«, sagte Addie lachend. Und dann hustete sie schmerzhaft.
    »Und jetzt habe ich diese Entscheidung

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