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Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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getroffen«, fuhr sie fort, als das Husten nachließ. »Und ich bitte euch, sie zu akzeptieren. Und zwar nicht aus Schuldbewusstsein. Sondern einfach nur aus Liebe zu mir.« Daraufhin teilte sie ihnen mit, wo sie begraben werden wollte.
    Aber Schuldbewusstsein und Liebe kann man nicht so einfach trennen, Addie . Noch etwas, das Scarlet gern gesagt hätte, aber nicht sagte.
    Sowohl Cora als auch Lou wussten schon früh, dass Addie dieses Mal jegliche Behandlung abgelehnt hatte. Lou kämpfte tapfer in einem endlosen Strom von Telefonaten, um Addie, dann Tom, dann Scarlet zu überreden, sie umzustimmen.
»Dummer, unsinniger, wehleidiger Ökoquatsch«, waren ihre genauen Worte, ihre Schlussattacke gegen Scarlet am Ende ihres letzten Telefonats. Gefolgt von: »Du lässt sie Selbstmord begehen, Scarlet. Ich hoffe, du kannst damit leben.« Es war unüberhörbar, dass sie einiges getrunken hatte.
    Doch was konnte man schon tun? Dieses Mal hielt Scarlet sich heraus. Dieses Mal wollte sie nicht, dass ihre Tränen ihre Mutter zurück in die – für sie – quälende und schmerzhafte Chemotherapie zwangen. Den Großteil des Herbsts versteckte sich Scarlet in ihrer Wohnung in New York, kümmerte sich dort um andere Dinge. Vor acht Monaten – selbst noch vor zwei Monaten – hätte sie sich nicht träumen lassen, dass sie am Morgen nach Addies Tod in Cider Cove säße und sich nach ihr sehnen, körperlich nach ihr sehnen würde, als wäre sie wieder ein Kind. Vor acht Monaten, vor einer Reihe unerwarteter Ereignisse, hatte Scarlet sich eingeredet, dass es Addies Entscheidung war, allein ihre.
    Was ist das, wenn jemand alles zurückweist, was die Ärzte ihm anzubieten haben? Eine genau eingrenzbare Phase im Prozess des Sterbens? Zornige Selbstzerstörungswut? Schicksalsergebene Verzagtheit? Friedliche Akzeptanz?
    Wahrscheinlich ein wenig von allem, hatte Addie Scarlet und Tom vor zwei Wochen erklärt, sichtlich nicht interessiert daran, die Frage weiterzuverfolgen. Und dann hatte sie ihre Instruktionen für das, was die beiden, wie Addie inständig hoffte, mit ihrem Leichnam machen würden, dargelegt – und hinterher unmissverständlich durchblicken lassen, dass sie nicht mehr länger über ihren Tod zu sprechen wünschte.
    So dass sie jetzt ihre eigenen Schlüsse ziehen müssen. Für Leute wie Dustin, stellt Scarlet sich vor, ist das einfach: Addies Tod war tatsächlich ein Selbstmord – ein zutiefst prinzipientreuer. In den Augen von Dustin und Addies anderen Jüngern
sogar ein Märtyrertod. Für die ist es leicht, ihren Tod so zu betrachten, denkt Scarlet, denn ihre Mutter ist sie ja nicht. In diesem Augenblick wünscht sie sich verzweifelt, dass diese versprengten Kinder der Kunstwelt und der Umweltschutzbewegung sich daran erinnern würden.
    Dustins Sägen – inzwischen ein stetiges Jammern – ist schrill geworden. Scarlet braucht unbedingt eine Tasse Kaffee.
    »Hat er denn keine eigene Mutter?«, fragt sie, ihre Stimme klingt brüchig.
    Cora sieht sie nur an, ohne etwas zu sagen. Wartet. Scarlett merkt, dass da noch mehr Tränen in ihren Augenwinkeln schwimmen.
    So hat sie immer auf Scarlet gewartet.
    Und wie immer beginnt Scarlet, im warmen Licht von Coras Blick sehr schnell zu schmelzen.
    »Ich bin schwanger«, sagt sie.
    »Das dachte ich mir«, antwortet Cora.
    Und dann öffnet Lou die Verandatür und zieht sich einen Stuhl heran.

Sieben
    Hatte er Glück erwartet? Erfolg? Beides?
    Obwohl er allgemein nicht zu ausgiebiger Introspektion oder Nostalgie neigte, stellte Tom sich hin und wieder solche Fragen. Oder er versuchte, das Gefühl wieder heraufzubeschwören, das er in jenem ersten Frühling gehabt hatte, als er oft bis spätabends in seinem Büro in Burnham saß, um noch nicht nach Hause zu müssen, und die Feldtagebücher seiner Studenten las. Das von Addie, der »Künstlerin«, sparte er sich bis zum Schluss auf, anfangs einfach nur neugierig, aber schon gegen Mitte Mai beinahe unerträglich begierig auf das, was er darin fände.
    Es war schwer zu sagen, was ihn mehr begeisterte: ihre herrlichen Zeichnungen oder die freimütigen Texte. Wenn er sich später an diese Jahre erinnerte, kam es ihm immer so vor, als wäre das der Moment, genau der Moment gewesen, in dem er erstmals erahnte, dass Glück möglich war. Und sich danach zu sehnen begann.
    Davor war er natürlich auch schon glücklich gewesen. Aber als Kind, später als Student an der Universität und dann während seiner Dissertation in Amerika war das

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