Die Luft, die uns traegt
du«, sagt Cora, »Addies Anblick in diesen letzten Wochen hat mich fassungslos gemacht; zu sehen, wie all diese Leidenschaft aus ihrem Gesicht wich. Es war, als hätte sie am Ende kein Interesse mehr daran zu kämpfen. Ich kann mich nach wie vor nicht entscheiden, ob ich das Frieden nennen soll, was auch immer sie am Schluss empfunden hat. Den Gedanken, dass sie resigniert oder in die Knie gezwungen war, kann ich nicht ertragen. Nicht Addie.«
Bei diesen Worten fangen beide Frauen leise zu weinen an. »Ich glaube, es war Frieden«, sagt Scarlet, die Stimme ein
heiseres Flüstern, das sie selbst kaum hören kann. Sie ist sich da überhaupt nicht sicher. Aber wenn es kein Frieden war, denkt sie, dann war es vielleicht trotzdem etwas Gutes, etwas dem Frieden Ähnliches, so ähnlich, wie es Addie eben möglich war. Und weit, weit entfernt von Resignation – dessen ist Scarlet sich sicher, aufgrund ihres letzten Wunschs. Doch sie hat Addie, als sie diesen Wunsch vor zwei Wochen äußerte, versprochen, weder Cora noch Lou mit dieser Information zu belasten.
Also räuspert sie sich und wiederholt es noch einmal, ohne unbedingt selbst daran zu glauben, weil sie möchte, dass Cora es glaubt: »Ich glaube, sie hat eine Art Frieden gefunden, Cora. Resignation hatte sie nicht im Repertoire, stimmt’s?«
Es folgt eine Pause, eine bedrückende – eine Stille zwischen ihnen, die, das weiß Scarlet, Cora gern mit dem ausfüllen würde, was gestern spätabends gesagt wurde, als Cora und Lou Tom und Scarlet mit Addie allein ließen. Doch Scarlet möchte sich diese letzten Stunden noch nicht ins Gedächtnis zurückrufen, die ihr in diesem Augenblick vorkommen, als hätte sie sie geträumt. Sie würde gern, nur noch ein kleines Weilchen, so tun, als schliefe Addie – als wäre es nicht sie gewesen, die Scarlet und Tom vor wenigen Stunden eingewickelt und die Straße hinuntergetragen und dann lächerlich umständlich auf die Liege gebettet hatten, als müsste sie es bequem haben.
Unten im Kühlraum des Restaurants hatte unerklärlicherweise schon Dustin mit einer Plastikplane und Tüten voller Trockeneis gewartet – eine »extra Vorsichtsmaßnahme«, hatte er gesagt, falls sie mehr Zeit bräuchten. Er hatte Tom und Scarlet dabei geholfen, die Tüten unter Addies Kopf und Rücken, neben ihre Beine und die Füße zu legen. Bei der Erinnerung schüttelt Scarlet den Kopf: Konnte sie das geträumt haben? Hatten sie wirklich den Leichnam ihrer Mutter in einem
Kühlraum aufgebahrt? Und würden sie diesen Leichnam tatsächlich in nur wenigen kurzen Stunden wieder wegbringen und selbst begraben?
Sie ist nicht bereit, nicht bereit für das, was als Nächstes kommt, nicht bereit für all die Fragen, nicht bereit für die ganze Wucht von Coras Kummer, viel weniger noch für ihren eigenen. Deshalb ist Scarlet erleichtert und erstaunlich dankbar, als – sehr gelegen, wie durch ein Wunder – das Geräusch einer alten, durch Holz knirschenden Handsäge von der Wiese unterhalb der Veranda ertönt. Sie und Cora drehen beide die Köpfe, um durch das Fenster Dustin bei der Arbeit an dem Sarg zu beobachten, den er für Addie zimmert.
»Wer ist das überhaupt?«, entfährt es Scarlet, ihre Stimme übertönt das stetige Surren der Säge, und beide Frauen kichern vor lauter Erleichterung. Doch Scarlet hört auch die Gereiztheit in ihrer eigenen Stimme. Sie hört sie, weil sie sich einen Großteil der vergangenen zwanzig Jahre so gefühlt hat – gereizt, übergangen, gekränkt.
Wer ist das? Das ist eigentlich eine rhetorische Frage. Ernsthafte, idealistische junge Leute wie Dustin zählen seit Jahren zum Gefolge ihrer Mutter; seit sie begonnen hat, ihre eigene Form von Protest angesichts der Zersiedelung und des Habitatverlusts zu inszenieren – Kampieren auf Bauland, das für neue Wohnsiedlungen oder Einkaufszentren vorgesehen ist, wütende Kunstinstallationen als Reaktion auf Dinge wie Pestizideinsatz und schwindende Vogelpopulationen.
Addie war ein Liebling radikaler Umweltschützer, seit sie sich vor gut sechzehn Jahren versteckte, um einer Verhaftung in Zusammenhang mit einem mutmaßlichen ökoterroristischen Akt zu entgehen. Auch in der Kunstwelt fand sie Anklang, nach ihrer Auseinandersetzung mit einem konservativen Senator vor acht Jahren. Dann, als letztes Jahr der Krebs
zurückkehrte, wurde die Nachricht rasch über die bei diesen beiden Gruppen beliebten Druckerzeugnisse und Mailings und Foren verbreitet.
Dieses Mal wollte sie
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