Die Luft, die uns traegt
Anliegen zu präsentieren. Viele trugen, wie Addie, Baumwollröcke und selbstgestrickte Pullover und lange geflochtene Zöpfe auf dem Rücken. Manche hatten Babys im Stillalter in Tragetüchern umgebunden, andere struppige kleine Kinder wie Scarlet im Schlepptau. Wieder andere waren adrett gekleidete Vorstadthausfrauen mit gleichermaßen adretten Kindern, die alle in ihren schlachtschiffgroßen Familienkutschen durch die Gegend karrten. Alle hatten sie Der stumme Frühling gelesen, alle machten sie sich Sorgen über verunreinigtes Wasser, über Krebs, über die Zukunft ihrer Kinder.
Den Kampf um das Einkaufszentrum verloren sie natürlich. Doch inzwischen hatte Addie Blut geleckt, und sie hatte einige Lehren aus diesem traurigen Scheitern gezogen. Vergiss die Briefe und die höflichen Besuche bei Abgeordneten, war eine davon. Sie hatte die gönnerhafte Verachtung hinter dem breiten, selbstzufriedenen, falschen Lächeln des Staatssenators gesehen, sein süffisantes »Ohne euch Frauen wären wir doch alle aufgeschmissen« gehört. Im Endeffekt spalteten sich Addie und einige weitere Bucks Mamas von der größeren Gruppe ab und taten sich mit einem anderen, losen Zusammenschluss örtlicher Aktivisten zusammen – ein paar Studenten der University of Pennsylvania, eine Handvoll Stadtflüchter der »Back to the land«-Bewegung, die in der Nähe von New Hope eine Minikommune gegründet hatten, ein knurriger ehemaliger Ingenieur bei Bethlehem Steel und schließlich ein stiller, verschlossener und verstörter Schüler aus Riegelsville mit Namen Brian Kent.
Es war besser, sagte sich Tom, Addie wieder leidenschaftlich
in etwas aufgehen zu sehen. Gar keine Frage. Natürlich vermisste er die Zeiten, als sie genau diese Begeisterung für die Arbeit gezeigt hatte, die sie beide, zumindest eine Weile lang, geeint hatte. Die Ausflüge, die sie zusammen unternommen hatten, ihre Zeit im Feld, Scarlet in der Kraxe auf dem Rücken dabei.
Dennoch war er froh, Addie wieder geschäftig und glücklich zu sehen, wenn auch die Gruppe, der sie inzwischen angehörte, von Tag zu Tag provokativer in ihren Aktionen wurde. Zeltlager aufschlagen und Land besetzen, das zur Erschließung vorgesehen war. Sich verhaften lassen. Inzwischen war Scarlet acht, neun, zehn – alt genug, um unter einer Mutter zu leiden, die regelmäßig festgenommen wurde. Manchmal hatte Tom das Gefühl, sich kaum noch an die junge Addie, die emsige Künstlerin dort an ihrer Staffelei neben dem Holzofen, erinnern zu können.
Feldtagebucheintrag
24. Mai 1965
Montag
Sunday Woods – zurück zum Ausgangspunkt.
Zeit : 5.30 – 8.00.
Beobachter : Anfangs die noch übrigen Vogelspinner + Tom Kavanagh; später Addie S. allein in ihrem provisorischen Ansitz am Zusammenfluss von Little Creek und Nisky Creek.
Habitat : Bäume.
Wetter : Wunderschön; es geht doch nichts über Mitte Mai. Ach ja – und 16,65 % Wolkendecke.
Bemerkungen : Listen beobachteter Spezies sind, wie ich dir
schon gesagt habe, etwas für Wahnsinnige – so albern wie ein ausgestopfter Uhu. (Wie schon eingangs erwähnt ist mir die Note egal, ich muss den Kurs nur bestehen!) Aber ich hoffe doch, dass dir meine Zeichnungen gefallen. Die Walddrossel wird immer besser, findest du nicht? Andere weniger, ich weiß schon.
Anmerkungen : Ich habe eineinhalb Stunden lang an einer Scharlachtangare gezeichnet. Irgendetwas hat dieser Vogel an sich, was ich einfach nicht ganz zu fassen bekomme – und zwar weit mehr als nur die Farbe. »Manches bleibt ein Geheimnis.«
24. Mai – Natürlich gab es bedeutende Frauen. Danke, dass du mich darauf aufmerksam gemacht hast. In Hawk Mountain war ich als Kind auf Schulausflügen. Wie kommt es, dass mir nie jemand von Rosalie Edge oder Irma Broun erzählt hat?
Ja, ich würde sehr gern entweder nach Hawk Mountain oder zu Audubons Haus in Mill Grove fahren. Aber um ehrlich zu sein, wäre es mir noch lieber, wenn du dieses Wochenende zu mir ins Cottage kämst, wenn du dir sicher bist, dass du jetzt frei bist.
Entschuldige, aber ich kann einfach nicht behaupten, dass es mir leidtut, dass Polly sich entschlossen hat, mit ihrem Gesangslehrer nach New York zu ziehen.
Nein, es tut mir nicht leid. Überhaupt nicht.
Ich habe einen Gaskocher. Wir könnten Würstchen mit Bohnen essen und dazu Wein trinken. Warum nicht?
Und ja, sowohl Cora als auch Lou wissen Bescheid. Aber sie haben Stillschweigen gelobt und sind absolut vertrauenswürdig. Vielleicht hast du schon länger bemerkt,
Weitere Kostenlose Bücher