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Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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dass Lou den Versuch, dich zu erobern, aufgegeben und stattdessen Mr Nachwuchsarzt ins Visier genommen hat? Ich hatte ihr nichts erzählt, aber wie ich schon sagte, ist sie eine scharfe Beobachterin.
Sie sieht viel genauer hin, als den meisten Leuten bewusst ist. Zu schade, dass Prinzesschen »Igitt, ein Käfer« eine so lange Leitung hatte. Wobei ich nicht sagen kann, dass sie mir besonders fehlt.
    Obwohl ich in der vergangenen Woche nicht viel Zeit mit den Vogelspinnern verbracht habe, werde ich diesen Kurs vermissen, wenn er vorbei ist (aus mehr als den offensichtlichen Gründen), genau wie du, das weiß ich. Wer hätte gedacht, dass Mr Nachwuchsarzt so viel Geschick und Enthusiasmus an den Tag legen würde – oder dass Lou inzwischen ganze drei Wochen bei ihm bleiben würde?
    Was auch immer du an diesem Wochenende unternehmen möchtest, ist in Ordnung. Ich horche liebend gern auf Uhus oder halte Ausschau nach Habichten oder arbeite weiter an meiner süßen Walddrossel – mir ganz egal. Zu wissen, dass ich mit dir zusammen sein werde, dass die Lage sich für dich zu Hause beruhigt hat, die Aussicht auf einen Sommer draußen bei den Vögeln und die Renovierung des Cottage – all das macht mich zufriedener, als ich es seit Monaten war. Seit England eigentlich.
    Und ich male besser als je zuvor, glaube ich. Ich habe dir einiges zu zeigen, wenn du morgen ins Atelier kommst.

Neun
    Irgendwann wandte Addie ihre Aufmerksamkeit toten Vögeln zu.
    Davon gab es reichlich. Mehr als den meisten Menschen bewusst war. Manche knallten gegen Fensterscheiben. Andere fielen eines Tages einfach tot vom Himmel, die Körper von Pestiziden, von verseuchtem Wasser, von durch Insekten übertragenen Krankheiten zerstört.
    Mit der Zeit konnte Addie sie nicht mehr übersehen, sie waren überall. Sie bevölkerten ihre Träume, so wie lebendige Vögel – fliegend, singend, sich paarend, ziehend – stets, ob im Schlafen oder im Wachen, hinter ihren Augenlidern geflattert hatten, als sie noch jünger war.
    Doch das sollte noch eine Weile dauern. Eine Zeitlang blieb Addie glücklich – aktiv und glücklich. Scarlet hatte nicht nur ein, sondern zwei ausgeglichene Elternteile, die Tag für Tag zufrieden und freudig ihrer Arbeit nachgingen. Die morgens gern aufstanden und sich ungeduldig ans Werk machten. Und die am Ende des Tages den Schlaf derer schliefen, die sich ihre Ruhe verdient hatten.
    Waren sie abgelenkt von ihrem kleinen Kind, von Geldsorgen, von den Ansprüchen entfernter Angehöriger, von Freud und Leid ihrer Freunde? Natürlich. Aber man bedenke den
Unterschied zwischen glücklichen Eltern, die mit Ablenkungen zu kämpfen haben, und so manchen anderen. Dann erscheint Scarlets Widerstreben, ihre Lebenserinnerungen aufzuschreiben, nachvollziehbarer. Ja, ihre Eltern waren schillernd. Aber vielleicht, dachte Scarlet, war sie nicht zornig genug, zumindest im Moment nicht. Sollte eine junge Schriftstellerin, wenn sie sich an schillernde Eltern wie Addie und Tom erinnert, nicht zornig sein?
    Es stimmte, dass Scarlet sich gewünscht hatte, Addie wäre bereit gewesen, es noch einmal mit der traditionellen Behandlung zu probieren. Es stimmte, dass sie die Entscheidung ihrer Mutter, statt ihrer eigenen Krankheit einen örtlichen Bauunternehmer (selbst noch aus dem Grab heraus) zu bekämpfen, etwas lächerlich und auch selbstsüchtig fand, auf Addies ganz spezielle Art. Es stimmte, dass Scarlet, als sie älter wurde, ihre Zweifel hatte, was die Festigkeit des Bands zwischen ihren Eltern betraf. Es stimmte, dass Scarlet angesichts der dramatischen Veränderung im Werk ihrer Mutter dessen Wert anzuzweifeln begann – so verstört war sie von der Wut, die diese Arbeiten anzufachen schien, und von der in ihren Augen zu plumpen Intention; sie sehnte sich vielmehr nach dem sanfteren Strich, dem tröstlichen Realismus der Gemälde ihrer Kindheit. Und es stimmte auch, dass sie sich manchmal einsam fühlte, verwirrt vom Zorn ihrer Mutter.
    Andererseits konnte sich Scarlet an keinen einzigen Vorfall erinnern, bei dem Addie diesen Zorn gegen sie gerichtet hatte. Sondern sie hatte sowohl von Addie, als auch von Tom gelernt, dass man, wenn man wütend oder verzweifelt oder einsam war, unbedingt weiterarbeiten musste, immer weiterarbeiten – was auch immer das für eine Arbeit sein mochte: malen, Vogelstimmen notieren, Land besetzen und sich verhaften lassen und die Polizei belügen, um jemanden zu schützen, der sich
nicht selbst schützen konnte. Als

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