Die Luft, die uns traegt
Scarlet Tom und Addie verkündete, dass sie sich entschlossen habe, das Schreiben von Gedichten zu ihrem Beruf zu machen, hatten sich beide, im Gegensatz zu den Eltern vieler ihrer Freunde, gefreut. Das hatte Scarlet von Addie nicht erwartet.
»Ich weiß, dass kein Dichter jemals die Welt retten wird«, sagte sie schüchtern zu Addie, nachdem sie den beiden bei einem Besuch in Burnham gegen Ende ihrer Studentenzeit ein paar ihrer Gedichte vorgelesen hatte. Sie saß auf dem Fußboden und lehnte den Kopf zurück auf Addies Schoß, die hinter ihr auf dem Sofa saß. Tom war aufgestanden, um noch ein Scheit in den Holzofen zu legen.
»Tja, das wird wohl niemand schaffen, fürchte ich«, gab Addie zurück und nestelte am frisch geschnittenen Haar ihrer Tochter. Scarlet konnte Toms Schultern bei ihren Worten nach unten sacken sehen. Das war nicht die Antwort, auf die er gehofft hatte, das wusste Scarlet, und doch machte ihr das überhaupt nichts aus. Sie hat nichts dagegen , war Scarlets einziger Gedanke. Ich habe ihr gesagt, ich könne die Welt nicht retten, und Addie hat nichts dagegen .
»Deine Chancen, die Welt zu retten, stehen genauso gut wie die einer durchgedrehten Malerin wie deiner Mutter«, fuhr Addie fort und zupfte spielerisch an Scarlets Haaren. Toms Lächeln sah müde aus, als er sich neben Addie setzte und den Arm ausstreckte, um sie an sich zu ziehen. Doch etwas an diesem Augenblick machte Scarlet ganz absurd glücklich. So glücklich, wie sie als Kind gewesen war.
Denn in Wahrheit war Scarlets Kindheit ziemlich glücklich gewesen. Ein behagliches Heim – immer noch eine Hütte eigentlich, trotz der vielen Renovierungsarbeiten und Anbauten, die Tom und Addie nach und nach vorgenommen hatten – voller Bücher und Bilder (Addies unmittelbar neben Scarlets eigenen
kindlichen Versuchen), voller warmer Teppiche und bunter Quilts, erfüllt vom Geruch nach Holzrauch und Brot, das Tom sonntags backte, und diversen vergnügten, verschlammten Hunden, die sie im Laufe der Jahre aufgenommen hatten. Und nachts die Geräusche des Nisky Creek, der Grillen, Frösche, Eulen und der Wiegenlieder, die Addie trotz ihres angeblich schlechten Gehörs mit rauchiger, hoher Stimme sang, während sie den Abwasch machte und Tom auf seiner Fiddle spielte, hin und wieder absetzend, um an seinem Scotch zu nippen, dem einzigen Luxus, den er sich gönnte.
Scarlet lag dabei auf dem Teppich vor dem Holzofen, ein Buch offen vor sich, und lauschte träumerisch The Seal’s Lullaby , Kiplings Seehund-Gedicht zu einer von Tom selbst erdachten Melodie gesungen. »Oh! hush thee, my baby, the night is behind us / And black are the waters that sparkled so green …« Tom und Addie sangen das Lied zusammen, und während Scarlet immer wieder eindöste, verwandelte sich der Bach vor ihrer Haustür in das schwarze, schützende Meer und sie selbst sich nicht in einen Seehund, sondern in einen Kormoran, der wohlig im Nest der mütterlichen Arme dort trieb, von Wärme durchflutet trotz der Kälte, die sie beide umgab. Mit dem Geruch von Rauch und Hefe und dem ganz eigenen Duft ihrer Mutter in der Nase – einem Hauch von Talkum, Terpentin an den Fingern –, beseelt von der offensichtlichen Zufriedenheit ihrer Eltern und den bittersüßen Melodien ihres Vaters war alles so sicher und gewiss wie das Paradies.
Der Bach war immer da, klar und üppig im Frühling, im Herbst oft nur mehr ein Rinnsal, stellenweise von kühlem, weichem Sand begrenzt, voller sanft gerundeter Steine und unzähliger Kaulquappen, Elritzen und Flusskrebse, träger Welse in schattigen Becken und rülpsender Frösche auf den niedrigen Zweigen einer gigantischen Ulme am Ufer.
Tagsüber, wenn Tom unterrichtete, war Addie mit ihrer Arbeit beschäftigt. Also lernte Scarlet rasch, sich auf ihre eigene Fantasie zu verlassen, und ersann ausführliche Geschichten mit sich selbst als Hauptfigur. Addie gab ihr bunte Kreide, die sie überall verwenden durfte, einschließlich der Wände und des Fußbodens ihres Ansitzes und, hin und wieder, auch des Hauses.
Scarlet fühlte sich wie in einen sicheren Kokon k-strategischer Aufzucht gewickelt. Sie aß gut, sie schlief gut, und schließlich entdeckte sie auch Spielgefährten am Bach – die Kinder der Kollegen ihres Vaters, mit denen sie gemeinsam auf Bäume kletterte, Fahrrad fuhr, im Wasser watete und Steine hüpfen ließ und Krebse fing. Worte und Musik und Bilder und ein grenzenloses Draußen. Und dann, als sie acht Jahre alt war, die
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