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Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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quengeligster Tageszeit, zu einem Spaziergang am Bach abzuholen. Dann trug er Scarlet, ließ sie auf und ab hüpfen und raunte ihr Koseworte ins Ohr, damit sie aufhörte zu weinen. Addie sah nach diesen Ausflügen besser aus, redete er sich ein, wenn der Abend hereinbrach und sie Scarlet noch auf der Veranda stillte, bevor sie und Tom zum Essen ins Haus gingen. Etwas mehr Farbe in den Wangen, weniger Schwerfälligkeit in ihrem Gang.
    Doch, das wusste Tom, bei Addie waren das nicht einfach nur die »Heultage«. Für sie hatte das etwas mit den Vögeln und
ihrer Arbeit zu tun. Als der Herbst weiter voranschritt, drängte er sie, an den Wochenenden frühmorgens in ihren Ansitz zu gehen. Er lernte rasch, sie nicht zu fragen, wie es gewesen war, was sie gesehen oder gezeichnet hatte. Sie weigerte sich, ihm die wenigen Skizzen zu zeigen, die sie mit nach Hause brachte. Meistens kam sie mit leeren Händen zurück.
    Dennoch bestand sie darauf, in ihren Holzverschlag zu gehen, und oft nahm sie in diesen frühen Jahren die immer unabhängiger werdende Scarlet mit. Schließlich begann Addie auch wieder zu malen – routinierte Illustrationen, die für den Großteil ihrer bezahlten Aufträge ausreichend waren. Aber (und natürlich konnte Tom das sehen, wenn er auch nichts sagte; sie sprachen nie darüber) denen die Energie und die Schärfe fehlten, das strahlende Leben der Bildtafeln in der Prosodie der Vögel zum Beispiel oder auch ihrer Werke aus den Schwangerschaftsmonaten.
    Seine eigene Arbeit hingegen hatte Tom noch nie als fesselnder empfunden. Seit der Veröffentlichung des Buches wurde er von Zeit zu Zeit um Kommentare zu Themen wie Habitatverlust, Abfallbeseitigung und Wasserversorgung sowie jeglichen erkennbaren Rückgang von Zugvogelarten gebeten. Und das Unterrichten! Nie war es schöner gewesen. Zum Teil lag es an den Studenten, die, wie er zu seiner großen Freude bei seiner Rückkehr aus dem Forschungsjahr feststellte, plötzlich wütend, engagiert, lautstark geworden waren. Die Kulturrevolution hatte, so schien es, sogar das winzige Burnham College erreicht.
    Auf einmal waren alle begierig auf seine Kurse, begierig auf seine Rezitationen aus Yeats und den englischen Romantikern, doch auch auf seine Vorlesungen über Darwin und Haeckel. Während die Monate und Jahre verstrichen und der Krieg sich weiter hinzog, packte er gern Addie, Scarlet und einen Trupp
Studenten in einen Kleinbus und fuhr zu Antikriegskundgebungen und -märschen nach Philadelphia und gelegentlich nach Washington.
    Unversehens teilte dem Anschein nach selbst die Verwaltung des College, einschließlich des neuen Rektors, die Ansichten Toms und vieler seiner Kollegen bezüglich des unsinnigen Kriegs, duldete gar die zornigen Stimmen der Studenten. Ein neues Jahrzehnt brach an, und die Sorgen um den Planeten, die er und Addie in der Prosodie der Vögel zum Ausdruck gebracht hatten, schienen Anklang bei der breiten Öffentlichkeit zu finden. (Wer ahnte schon im ausgelassenen Frühling 1971, dass selbst der Earth Day eines Tages ein Anlass für hohle Werbeslogans internationaler Konzerne werden würde?)
    Auf einem dieser Märsche in Philadelphia, als Scarlet drei Jahre alt war, entdeckte Addie eines Tages die Umweltaktivisten der »Bucks County Mothers for the Earth« (oder auch kurz »Bucks Mamas«, wie sie sich selbst nannten). Und einige Jahre lang war sie so beschäftigt, anfangs mit Petitionen und Protestbriefen, später mit Sit-ins und Teach-ins und dergleichen, dass sie offenbar kaum bemerkte – und es ihr in jedem Fall nichts ausmachte –, wie selten sie noch Zeit zum Vögelbeobachten und Zeichnen fand. Ein oder zwei Stunden Arbeit am Morgen, größtenteils nur an älteren Bildern oder auf der Basis einer der zahlreichen Skizzen in den unter ihrem Zeichentisch gestapelten Notizbüchern, reichten, um ein kleines Einkommen zu sichern. Und dann hatte Addie den Rest des Tages frei für drängendere Aufgaben.
    Zuerst war es das Einkaufszentrum, das auf einem Streifen Wald und Brache am Rande von Doylestown gebaut werden sollte, einem Gebiet, das als Lebensraum eines immer seltener werdenden Schmetterlings namens Speyeria idalia , einer Perlmutterfalterart, bekannt war. Im Nachhinein wirkte es beinahe
kurios, sich Addie und ihre Mitstreiterinnen von den Bucks Mamas um einen Küchentisch herum versammelt vorzustellen, um ihre empörten Briefe zu verfassen, oder in das winzige Büro eines lokalen Abgeordneten gequetscht, um ihre aufgelisteten

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