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Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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2002
    »Ich bin die ganze Nacht gelaufen«, sagt Lou atemlos. Kaum merklich nickt sie mit dem Kopf, als sie den Becher Kaffee entgegennimmt, den Cora ihr eingegossen hat. Sie wirft sich in den gepolsterten Schaukelstuhl am Fenster, hängt die Beine über eine Lehne und trinkt einen Schluck Kaffee. Eigentlich sieht sie weniger aus wie jemand, der die ganze Nacht gelaufen ist, als vielmehr wie eine Diva, die gerade die Bühne betreten hat. Sie trägt eine modisch geknitterte Leinenhose und einen Kaschmirpulli, und es weht ein sauberer, betörender Duft hinter ihr her. Sie ist eine Frau, die sogar Parfüm elegant trägt. Ihre Auftritte waren, seit Scarlet sich erinnern kann, immer so glanzvoll.
    Louise Sandrine Begley – sie hatte ihren eigenen Nachnamen behalten, als sie Ted 1975 heiratete. Addie war davon entzückt gewesen, beeindruckt von Lous Mut, wobei es vielleicht in Washington, D. C., Mitte der Siebziger weniger Mut erforderte, als 1966 in Bucks County nötig gewesen wäre. Lou hätte tatsächlich zur Bühne, zur Diva getaugt, vielleicht nicht als Sängerin, aber bestimmt als ausdrucksstarke Schauspielerin. Trotz der Geburt zweier Töchter, trotz der schmerzhaften,
jahrelangen Untreue ihres Mannes und letztlich der bitteren Implosion ihrer Ehe sieht sie immer noch großartig aus. Ihre Haut ist rein und jugendlich, selbst mit achtundfünfzig, ihr dunkles Haar so perfekt geschnitten, dass der Wind es noch besser aussehen lässt, ihr Make-up perfekt, obwohl sie eine Nacht am unruhigen Strand und in den stillen Straßen Cider Coves zugebracht hat.
    »Wisst ihr, wie lange ich das nicht mehr gemacht habe? Wahrscheinlich seit Burnham nicht mehr, seit Addie und ich mit dem Bus nach New York gefahren und bis zum Morgengrauen in Greenwich Village herumgelaufen sind. Weißt du noch, Cora? Erinnerst du dich noch, als wir das immer gemacht haben?«
    Cora nickt zerstreut. Man sieht ihr an, dass sie enttäuscht über die Unterbrechung ist, nach den Neuigkeiten, die Scarlet ihr gerade in den Schoß geworfen hat. Scarlet ist auch enttäuscht, aber gleichzeitig erleichtert. Sie wird Cora mehr über ihre Schwangerschaft erzählen, aber sie hat es nicht sonderlich eilig damit.
    Cora nimmt wieder die Zeitung zur Hand. Oft macht es den Eindruck, als versuchte sie, Lou auszublenden. Die Freundschaft der beiden hat Scarlet nie verstanden, und sie fragt sich, ob sie wohl weiterbestehen wird, nun da Addie – scheinbar ihre einzige Gemeinsamkeit – fort ist.
    »Ich kann mich bei dir öfter daran erinnern als bei Addie«, sagt Cora und reicht Lou den Korb mit den selbst gebackenen Brötchen. »Aber ich kann mich an die Nacht erinnern, als ihr beide den letzten Bus zurück verpasst habt. Ihr kamt in unser Zimmer und habt eine Kanne Kaffee getrunken, danach ist Addie in ihr Atelier gegangen, und du hast vierundzwanzig Stunden geschlafen.«
    »Ja!« Herzhaft beißt Lou in ein Brötchen, setzt die Beine
schwungvoll auf den Boden und beugt sich verschwörerisch zu Cora und Scarlet vor. »Aber erst, nachdem ich mir einen gesucht hatte, mit dem ich schlafen konnte. Das war die Wirkung, die New York jedes Mal auf mich hatte. Diese ganze Kunst, dieses ganze Leben – danach war ich immer ausgehungert , nach Essen, nach Sex, nach allem.«
    »Ach ja.« Cora nickt wieder, offenbar erinnert sie sich auch daran, und wie immer ist Scarlet verblüfft über den Mangel an Missbilligung, denselben Mangel an Kritik oder Werturteil, mit dem Addie auf Lou reagierte. Bildet sie sich das nur ein oder ist Cora eigentlich viel prüder? Und hätte Addie solche Bemerkungen und solches Verhalten nicht als hoffnungslos unseriös empfinden müssen?
    Es ist möglich, dass Scarlets Bild von Lou als frivol, flatterhaft, intellektuell eher ein Leichtgewicht – eine etwas einfältige, wenn auch harmlose Frau – von Tom stammt. Scarlet kam es immer so vor, als hätte er sich für Lou nie so recht erwärmen können.
    »Wer war das denn damals?«, fragt Cora, die Brille auf der Nase, mit befremdend großmütterlichem Blick. »Ted kanntest du zu dem Zeitpunkt noch nicht, er kann es also nicht gewesen sein. Vielleicht dieser Theaterwissenschaftler? Arthur Soundso – wie hieß er noch?«
    »Ach, wer weiß? Es hätten verschiedene Theaterwissenschaftler sein können oder auch Kunsthistoriker. Psychologiestudenten waren immer am leichtesten zu finden, soweit ich mich erinnere. Mein Gott, dieser Campus wimmelte von schönen, dienstfertigen Jungs.«
    Sie alle wissen, dass dies

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