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Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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eine Art Show ist und von jedem erwartet wird, dass er mitmacht. Also lächelt Scarlet und zieht eine Augenbraue hoch, schlüpft in ihre Rolle. »Die Version der Geschichte hab ich ja noch nie gehört«, sagt sie.

    Und dann ist sie hin- und hergerissen, wie immer bei Lou. Oder zumindest wie seit sechzehn Jahren, seit jenem trostlosen Herbst, als Addie sich in Lous Haus versteckt hielt, als Scarlet an den Wochenenden mit Tom nach Washington fuhr, um sie zu besuchen, und alle so taten, als wäre nichts sonderlich Ungewöhnliches daran, sich so zu treffen, so verstohlen. Als alle Lous köstliches Essen und ihren guten Wein genossen und sich um ihre hübschen, verwöhnten Töchter Suzy und Liz bemühten. Hin und wieder war auch Ted dabei und versuchte ebenfalls vorzutäuschen, das sei normal. Für Leute wie Addie und Tom.
    Doch die Spannung damals war so dicht und greifbar, dass Scarlet davon übel wurde. Immer, wenn sie sonntags spät am Abend wieder bei Cora ankam, ging sie sofort ins Bett und blieb einen kompletten Tag in ihrem Zimmer, schwänzte die Schule, sprach mit niemandem. Cora stellte nie Fragen.
    Vor allem ein spezielles Abendessen ist Scarlet im Gedächtnis geblieben, aus der späteren Zeit in Washington, kurz bevor Addie endlich wieder zurück nach Burnham fuhr. Bei diesem Besuch machte Addie einen gedämpfteren, beinahe fahrigen Eindruck, und Tom bat Scarlet, mit den sogenannten Erwachsenen zu Abend zu essen statt schon vorher mit Suzy und Liz.
    »Alle benehmen sich besser, wenn du dabei bist«, sagte er, obwohl Scarlet davon noch nichts bemerkt hatte.
    Es war eine besonders ölige Mahlzeit. Jahrelang würde Scarlet sich an das Öl in der frisch zubereiteten Salatsoße erinnern, an die in Olivenöl schwimmende Pasta, an ein saftiges Stück Fleisch, aus dem Fett auf ihren Teller tropfte und dessen rosige Mitte anzüglich zu ihr aufsah. Sie stocherte auf ihrem Teller herum, wünschte, sie hätte einfach eine Stunde früher mit den beiden kleinen Mädchen zusammen Nudeln mit Käsesoße essen können, folgte der Unterhaltung und dann wieder nicht.
Es war im Prinzip dasselbe wie üblich. Ted erzählte Interna aus dem Universitätsbetrieb, Tom bemühte sich anfangs tapfer, sich zu beteiligen. Aber an diesem Abend wirkte er ganz besonders müde.
    »Vermutlich läuft das an einer Uni wie Georgetown anders ab«, sagte er schließlich entschuldigend. »Oder ich bin einfach inzwischen zu alt für diese Sachen. Ich weiß nicht, Ted, aber im Wesentlichen unterrichte ich und widme mich meiner Forschung, mit dem Rest habe ich nicht viel zu tun.«
    Daraufhin ein Kommentar von Lou. »Kannst du dir das vorstellen, Ted? Unterrichten und forschen, statt sich nach dem Freitagskolloquium zu betrinken und dem nächstbesten Rock nachzusteigen?«
    Worauf eine peinliche Stille folgte, eine Weile nichts als das Klirren von Gläsern und Gabeln zu vernehmen war, bis Ted sich an Addie wandte. Scarlet war darauf vorbereitet, wenn sie sich auch wunderte, warum er es immer wieder probierte. Jedes Mal, wenn Ted (oder auch Lou oder sonst jemand) versuchte, mit Addie über ihre Leidenschaften zu diskutieren, ihre Verzweiflung über unkontrollierte Bebauung, verseuchtes Grundwasser, Erderwärmung, egal was, hielt sie eine Zeitlang dagegen, hob dann die Hände und sagte: »Es ist doch eine ganz einfache Frage, oder? Wenn ich Unrecht habe, wer verliert? Diverse Multimillionäre. Und wer verliert, wenn du Unrecht hast?« An dieser Stelle machte sie eine Pause und lächelte. »Deine Kinder.« Noch eine Pause, dann: »Ich weiß nicht genau, warum du mit mir streitest.«
    Ihre moralische Überlegenheit und ihre unerschütterliche Überzeugung waren eigentlich bewundernswert, dachte Scarlet manchmal. Sie genoss diese Eigenschaften an ihrer Mutter beinahe, wenn sie es nicht gerade selbst abbekam.
    An diesem Abend aber wählte Ted einen etwas anderen
Ansatz. »Also, Addie«, begann er, »was genau hat das mit dir und diesen jugendlichen Anarchisten zu bedeuten, mit denen du verkehrst?« Zu diesem Zeitpunkt hatte er schon mehrere Gläser Wein getrunken.
    Addie sah ihn durchdringend an und trank langsam, bedächtig einen Schluck Wasser. »Mir ist nicht ganz klar, was du mit ›Anarchisten‹ meinst, Ted.«
    »Na ja, ist es nicht eine Form von Anarchie, mehrere neue Häuser in Brand zu stecken? Offen gestanden fällt mir kaum ein besseres Beispiel ein.« Er sah sich Bestätigung heischend am Tisch um. Tom starrte auf seinen Teller, und Scarlet legte die

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