Die Luft, die uns traegt
Habichte, zahllose Finken und Drosseln und einmal tatsächlich ein Virginia-Uhu –, selbst auszunehmen und auszustopfen.
Irgendwann hielt Scarlet die Berge von toten Vögeln, die ständigen Telefonanrufe und dringenden Treffen mit den Naturschützern und Aktivisten, mit denen Addie sich neuerdings abgab, und die von gewissen Mitgliedern dieser Gruppe veranstalteten, immer befremdlicheren »Interventionen«, wie sie es nannten, nicht mehr länger aus und so fragte sie, ob sie mit siebzehn den ganzen Sommer bei Cora in Cider Cove verbringen dürfe.
Im Juni schrieb sie ihre letzte Prüfung für die elfte Klasse, packte den alten Volvo, den ihr Vater von einem Nachbarn gekauft hatte, und fuhr nach Cider Cove. Den gesamten Sommer lang arbeitete sie als Zimmermädchen in einem Hotel in Cape May. Und im August beschloss sie, nicht nach Burnham zurückzukehren.
Es gab Details aus diesen Jahren, die in der gängigsten Version von Addies Leben fehlten. Der Großteil ihrer kleinen, aber loyalen Anhängerschaft nahm beispielsweise an, dass sie die Arbeit an den Assemblagen toter Vögel zur Zeit ihrer ersten Krebserkrankung begonnen hätte. Doch in Wirklichkeit sammelte sie zu diesem Zeitpunkt schon seit mehreren Jahren Kadaver.
Und die meisten dieser Leute sahen die Anfangszeit ihres
öffentlichen Umweltaktivismus offenbar in Verbindung zu den »Übergangsjahren«, wie ein Anhänger sie nannte (in einem Addie gewidmeten Newsletter, den er einige Monate lang veröffentlichte, nachdem ihr das Stipendium der staatlichen Kulturstiftung National Endowment for the Arts aberkannt worden war) – der Zeit, die Addie Mitte der Achtzigerjahre an der Küste verbrachte, der Phase, in der sie die Vogelarten ihres ersten Aufenthalts in Cape May wiederentdeckte und in der Küstenumgebung ihre Freiheit wiederfand, die jedoch gepaart war mit einer wachsenden Verzweiflung über die zahlreichen Gefährdungen von Meereshabitaten am Mittelatlantik. Und so weiter.
In diesem Punkt war die zeitliche Zuordnung etwas treffender, aber die Ursachen stimmten nicht. Es fehlten einige Details, Dinge, die Addies Chronisten nicht wissen konnten. Wie zum Beispiel Richards rapider Verfall. Oder die Entscheidung ihrer Tochter, von zu Hause auszuziehen, und zwar im Grunde genommen endgültig auszuziehen, noch bevor sie die Schule beendet hatte. Oder ein verlorener Junge namens Brian Kent aus Riegelsville, Kind einer bitteren Scheidung mit einem Hang zur Brandstiftung, der beschlossen hatte, sich Addie und ihrer Aktivistenschar anzuschließen – und der (gut für ihn, schlecht für Addie) sie aus irgendeinem Grund an den armen, verlorenen Richard erinnerte.
Jahre später machte es den Eindruck, als wäre sogar Cora und Lou etwas Entscheidendes über ihre Freundin entgangen. Beide gingen davon aus, dass es Addies Wunsch war, sich verbrennen und ihre Asche über dem Meer verstreuen zu lassen, oder vielleicht auch am Ufer des Nisky Creek.
»Die Küste war wirklich ihre Rettung«, sagte Lou unter Tränen am Tag vor Addies Tod, als sie, Cora, Scarlet und Tom alle gemeinsam am Meer saßen und aufs Wasser starrten. Sie erinnerte
sich an einen Besuch früher im Jahr, als Addie noch etwas kräftiger gewesen war und gemeinsam mit ihren beiden Freundinnen einen langsamen, vorsichtigen Spaziergang am verlassenen Strand gemacht hatte.
»An dem Tag strahlte sie«, sagte Lou. »Stimmt’s, Cora?«
Cora nickte etwas abwesend, wie es Scarlet vorkam, und weinte still.
»Sie sah wieder aus wie ein junges Mädchen, Tom«, fuhr Lou fort. »Wie damals, als wir alle sie kennenlernten.« Und dann ergriff sie impulsiv Scarlets Hand. »Und auch, als du sie kennengelernt hast, Scarlet! Du meine Güte! Weißt du noch, Cora? Weißt du noch, was für eine glühende Mutter sie war? Sie brachte sogar mich auf die Idee, dass ich vielleicht Kinder haben wollte, obwohl Gott weiß, dass ich mit zweiundzwanzig, oder wie alt auch immer sie war, noch anderes im Kopf hatte.«
»Vierundzwanzig«, sagte Tom leise, an niemanden im Speziellen gerichtet. Nur Scarlet hörte ihn.
Lou putzte sich die Nase mit dem Taschentuch, das Cora ihr reichte, und sprach weiter. »Natürlich sollte sie genau hier ruhen, genau hier sollten wir ihre Asche verstreuen. Hier im Sand, in den Gezeitentümpeln, bei den Wasservögeln.«
Niemand sonst sagte etwas. Aber Tom und Scarlet sahen einander an und wandten dann die Augen ab, bemüht, ihr Lächeln zu unterdrücken.
III
Wirkursachen und Zweckursachen
Zehn
MAI
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