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Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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Esszimmer warf, aß Ted weiter, während er in einer Zeitschrift las. Als sie später nach draußen zu Toms Auto ging, um ihre Tasche zu holen, konnte sie Tom und Addie in der Wohnung über der Garage streiten hören. Den Rest des Besuchs verlor niemand ein Wort über
diesen Abend. Und ab da aß Scarlet immer mit Suzy und Liz zusammen.
    Suzy und Liz, erst fünf und sieben zu dieser Zeit, waren bereits zornig. Sie waren schwierige Kinder. Aber wer konnte ihnen ihre Missmutigkeit schon verdenken, dachte Scarlet. Sie reagierten nur auf genau die Dinge, die sie selbst hasste: künstliche Fröhlichkeit, zu viel Alkohol, all diese explosive Wut unter der Oberfläche, die sich ab und zu in so scheußlichen Auseinandersetzungen wie an jenem Abend entlud. Auseinandersetzungen, über die hinterher nie ein Wort verloren wurde.
    Tom, der sich größtenteils zurücknahm und beobachtete, gut aß, aber wenig trank, machte oft allein lange Spaziergänge: Er sah selbst aus wie ein verwirrtes Kind. Wie um Himmels willen sind wir hier gelandet? , dachte er, das wusste Scarlet. Wenn sie ihn betrachtete, hatte sie das Gefühl, dass er Lou hassen müsste. Lou, die beharrlich weiter ihre Abendessen kochte und Museumsbesuche organisierte und alle abends zu Filmen versammelte, obwohl klar war – da sie es tatsächlich oft genug bei Tisch oder nach ein oder zwei Cocktails oder einigen Gläsern Wein sagte –, dass sie Addies Verhalten für töricht hielt.
    Scarlet wollte Lou ebenfalls hassen, aus Gründen, die sie nicht erklären konnte. Doch selbst damals, mitten in jenem grauen und bitteren Herbst, als ihre Mutter aus Pennsylvania floh, weil man sie der Mittäterschaft an einem ideologisch motivierten Akt der Brandstiftung beschuldigte, selbst da konnte Scarlet die Zärtlichkeit erkennen, die Lou für Addie empfand. Wie sie sich um sie kümmerte, trotz der unübersehbaren Belastung, die das für ihre bereits bröckelnde Ehe bedeutete. Und obwohl sie laut eigener Aussage Addies Überzeugungen für aberwitzig hielt.
    Bis zu diesem Tag ist Scarlet nicht sicher, ist mit sich selbst uneins, immer noch hin- und hergerissen zwischen Ungeduld
mit Lous kindischem Narzissmus und Bewunderung für ihre Chuzpe, für die Absage, die sie Anstand und Fraulichkeit und anderen Formen vergeudeter Energie erteilte. Eine Zeitlang glaubte sie, wie Lou sein zu wollen. Schön, verwöhnt, unbequem, nicht leicht zu vergessen. Was sie nicht wollte, war die Traurigkeit hinter all dem.
    »Ich habe immer nur von dem Kaffee und dem Atelier und den vierundzwanzig Stunden Schlaf gehört«, sagt Scarlet jetzt und spielt das Theater weiter mit. »Irgendwie wurde der Teil mit dem Sex und den schönen Jungs weggelassen.«
    »Tja, du bist jetzt wie alt, vierunddreißig? Und tust dich an deinem eigenen Sortiment an schönen Männern gütlich, will ich doch hoffen. Vielleicht bist du jetzt bereit für die furchtbare Wahrheit, Scarlet.« Lou lacht und schwingt die Beine wieder über die Lehne des Schaukelstuhls. Offenbar ist sie die ganze Nacht in einem der schönsten Paar Sandalen – elegant, mit Riemchen – herumgelaufen, die Scarlet je gesehen hat. Sie bewundert gerade Lous perfekt gepflegte Füße, als diese anklagend mit dem Finger auf sie zeigt.
    »Ungefähr in deinem Alter habe ich beschlossen, dass es Zeit wird, dem Ganzen ein Ende zu setzen, zu heiraten und das auch ernst zu nehmen, eine Familie zu gründen und sich niederzulassen und Wurzeln zu schlagen und bla, bla, bla.« Sie verdreht die Augen und fährt sich trotzig mit der Hand durchs Haar. »Das ist eine Falle, die du noch vermeiden kannst, wenn du schlau genug dazu bist. Und sieh dich nur an! Du siehst fantastisch aus – du hast noch mindestens zehn Jahre Sex mit schönen Männern vor dir, wenn du mit dem weitermachst, was auch immer du gerade machst.« Sie beißt herzhaft in ein weiteres Brötchen und ergänzt dann: »Habe ich dir schon gesagt, Scarlet, dass du, glaube ich, noch nie so hübsch aussahst? Stimmt doch, Cora?«

    Cora nickt, und ihre Mundwinkel zucken – entweder wegen eines unterdrückten Lächelns oder eines unterdrückten Widerspruchs oder beidem. Vielleicht, denkt Scarlet, sieht sie wirklich besser aus als früher. Sie geht regelmäßig joggen, ihre Haut sieht gut aus, ihr Haar kommt ihr plötzlich dicker und welliger vor als sonst. Momentan treibt sie zwar zu verloren in einem Meer fremder Hormone, um echtes Zutrauen in ihre äußere Erscheinung zu haben, doch in letzter Zeit haben ihr

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