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Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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als Richards Klassenkameraden von der Highschool sich emsig aufs College vorbereiteten und er selbst als Kopierhilfe im Büro seines Vaters arbeitete, ohne klare Aussichten auf eine andere Beschäftigung, nahm er nur selten an den Mahlzeiten der beiden Familien teil. Scarlets deutlichste
Erinnerung an ihn aus dieser Zeit war, ihm abends oben im Flur zu begegnen, diesem wortkargen, unrasierten jungen Mann, der noch vor zwei Jahren lachend auf den Wellen geritten oder vor ihr auf dem alten Fahrrad herumgeschlingert war. Dann versuchte sie, ihn wenigstens zu grüßen, während er sich mit hängenden Schultern an die Wand drückte, seine Füße anstarrte und hartnäckig ihrem Blick auswich.
    Jahre später fragte Cora sich manchmal, ob Richards Diagnose nicht eigentlich Asperger-Syndrom hätte lauten müssen. Er war eindeutig intelligent und in vielerlei Hinsicht selbstständig, ein talentierter Künstler und Gitarrist und – eine Zeitlang und unter Toms Einfluss – wie besessen an Vögeln interessiert. Sicherlich jedoch Asperger in Verbindung mit einer ausgeprägten Depression, dachten Coras Freunde, oder auch einer bipolaren Störung. Er war als Kind schon verschlossen gewesen, ein Einzelgänger, dessen Familie alles Erdenkliche unternahm, um ihn bei Spielen, Fahrradtouren, beim Herumtoben am Strand oder bei Ausflügen mit einzubeziehen. Doch je älter er wurde, desto schwieriger wurde es, ihn aus dem Haus und schließlich auch aus dem Zimmer zu lotsen. Sein Rückzug in sich selbst und in die Schrecken, die sein Kopf bergen musste, wurde immer vollständiger.
    Seit seinem vierten Lebensjahr, als Cora und Karl ihn zu dem Spezialisten in Philadelphia brachten, hatte man ihn einfach als autistisch bezeichnet. Alle sagten, die Familie habe die Belastung, ein Kind wie Richard zu haben, erstaunlich gut gemeistert, sei damit so gut umgegangen, wie man nur erwarten könne. Coras Umgang mit der Situation, so schien es, bestand vorrangig darin, nicht darüber zu sprechen.
    Addie hingegen konnte nicht zum Schweigen gebracht werden – außer in Coras Anwesenheit, wo sie, bemerkenswert für ihre Verhältnisse, lernte, ihre bitteren Tiraden für sich zu behalten.
Lange vor den 1990er Jahren, als ein dramatischer Anstieg von Autismus zu verzeichnen war und eine Reihe von Kritikern Fragen über Thiomersal aufwarfen, die Quecksilberverbindung, mit der Impfstoffe für Kinder konserviert wurden, bekam Addie bereits einen obskuren Artikel über eine stille kleine Studie aus Europa in die Hand. Quecksilbervergiftung, erklärte sie daraufhin jedem, der es hören wollte (was zu diesem Zeitpunkt nicht viele waren). Verseuchter Fisch. Amalgamfüllungen, Rückstände aus der Kohleverbrennung, Leuchtstoffröhren, frei verkäufliche Antiseptika. Und noch konkreter: endlose Vorräte an Impfstoffen, die mit dem Zeug konserviert wurden, absurde Mengen eines tödlichen Metalls, das direkt in den Blutkreislauf von Kleinkindern gepumpt wurde. Die Beweise lagen vor. Und machte sich jemand die Mühe, etwas dagegen zu unternehmen? Natürlich nicht. Was war schon die Trauer einer verzweifelten Mutter hier oder da gegen die Macht der Industrie, gegen den amerikanischen Hunger auf Dosentunfisch und die Illusion von Gesundheit und Wohlbefinden?
    Um diese Zeit herum verschob sich auch Addies Fokus als Künstlerin von lebendigen Pelikanen, Rohrdommeln und dergleichen zu toten Vögeln. Egal welche: Singvögel, Greifvögel, Watvögel. Für Addie war nur von Bedeutung, dass sie tot waren, und zwar tot infolge einer, wie sie es nannte, »Einmischung des Menschen«. Und paradoxerweise, wie weder ihr noch ihrem Umfeld entging, wurde ausgerechnet sie eine Zeitlang Stammkundin bei Richard Schantz, dem meistbeschäftigten und besten Tierpräparator im nördlichen Bucks County. Jetzt kam es gelegen, dass Tom die staatliche Lizenz behalten hatte, die ihm gestattete, die kleine Sammlung des College durch frisch verstorbene und frisch ausgestopfte Tiere zu aktualisieren. Tom hatte sie immer für überflüssig gehalten. Sein
Vorgänger hatte die jährliche Verlängerung der Lizenz in das Institutsbudget eingebaut, und Tom hatte das nie geändert. Nie hätte er geahnt, dass sich das eines Tages für Addie als praktisch erweisen würde.
    Nach einer Weile befand sie, dass es irgendwie geschummelt war, Schantz’ Dienste in Anspruch zu nehmen, und so fing Addie an, die toten Vögel, die ihr mit der Zeit von Leuten auf die Hintertreppe gelegt wurden – Tauben, Blauhäher,

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