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Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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evolutionäre Bindeglied zwischen Dinosauriern und modernen Vögeln zu. Bei anderen Gelegenheiten arbeiteten er und Richard stundenlang schweigend zusammen, bastelten überraschend naturgetreue und oft sehr schöne Modelle von Vogelnestern.
    Einige davon bewahrte Tom in seinem Büro auf dem Campus auf, wo die Gefahr geringer war, dass Addie sie entdeckte und traurig wurde. Scarlet brachte das Nest des Trupials, dieses zarte, aus Pflanzenfasern und Haar gewobene Pendel, jedes Mal zum Weinen. Sie sah Richards Miene noch vor sich, als er es eines Abends beim Essen hochhielt, damit jeder es betrachten konnte. Langsam ließ er es hin und her schwingen, folgte ihm mit den Augen, einen Ausdruck von Verzückung auf dem Gesicht.
    »Es muss so gebaut werden, damit es im Wind schaukeln kann. Das beruhigt die Jungen«, sagte er, ohne das Nest aus den Augen zu lassen. »Wie die Wiege in der Baumkrone.«
    Alle lächelten und freuten sich über diese Vorstellung wie auch über Richards sichtliches Vergnügen. Niemand ging darauf ein, dass das alte Kinderlied Rock-a-Bye Baby mit dem Absturz der Wiege ein böses Ende nimmt.

    Bobby besaß dieselbe natürliche Ungezwungenheit mit seinem Bruder. Sie waren wie alle halbwüchsigen Brüder auf der Welt, vermutete Scarlet – balgten sich spielerisch im Sand, stritten über mögliche Interpretationen von Pink-Floyd-Texten, schubsten einander, wenn sie ein hübsches Mädchen im Bikini am Strand entdeckten. Nachdem er seinen Bruder jahrelang gegen die Spötteleien anderer Kinder abgeschirmt hatte, hatte Bobby ein eisernes Beschützergebaren entwickelt, das Jugendliche, die Richard nicht kannten – zunächst die einheimischen, später Touristen am Strand oder in der Spielhalle –, nun geradezu zum Spott herauszufordern schien. Vielleicht lag es genau daran, dass in Cider Cove niemand je Lust darauf verspürte.
    Cora ging ebenfalls ruhig und unbefangen mit Richard um, eine liebende Mutter mit ihrem halbwüchsigen Sohn. Sowohl sie als auch Karl bemühten sich unermüdlich, Richards Leben so normal wie möglich zu gestalten. Doch vielleicht weil Scarlet gelernt hatte, Cora und Richard mit Addies Augen zu betrachten, hatte sie immer das Gefühl, den Schmerz und die Angst erkennen zu können, die bei Coras ausgelassenen Umarmungen und Scherzen mitschwangen, bei ihren entnervten Ermahnungen beider Söhne, ihre nassen Handtücher draußen aufzuhängen oder ihre Fahrräder in die Garage zu räumen.
    Einmal kam Scarlet genau in dem Moment in die Küche, als Richard sich den Armen seiner Mutter entwand. »Mama, mir geht’s gut«, sagte er leise und eilte aus dem Zimmer. Ehe Scarlet ebenfalls hastig die Küche verlassen konnte, drehte sich Cora zu ihr um. In dem Sekundenbruchteil, bevor sie ihr geübtes Lächeln aufsetzte, war Scarlet sich ganz sicher, sie ein Schluchzen unterdrücken zu sehen.
    Obwohl Addie und Scarlet nicht ganz so unverkrampft in Richards Gegenwart waren wie Tom und Bobby, hatten sich
doch alle schon bald an seine Stimmungsschwankungen und seine diversen Zwangshandlungen gewöhnt, und der Großteil der in diesen frühen Jahren mit Cora und ihrer Familie verbrachten Jahre war sonnig und glücklich und ausgelassen. Diese Aufenthalte in Cider Cove retteten Addie und Tom und Scarlet, zumindest eine Zeitlang. Aus einer von mehreren ernsten Krisen, die Addie als Künstlerin erlebte. Aus Scarlets pubertärem Fegefeuer.
    Jener erste Besuch im Spätsommer 1982 wirkte bis in die bald darauf einsetzenden kalten Monate nach. Die Kavanaghs hatten noch ihre Sonnenbräune und von Meer und Licht ausgebleichtes Haar, Erinnerungen an abendliche Picknicke am Strand, Addies im Entstehen begriffene neue Bilder sowie Toms neu entflammtes Interesse an Watvögeln und dem Vogelzug entlang der Küste. Und während der folgenden beiden Sommer würden sie so oft wie nur möglich zurückkehren, manchmal mehrere Wochen am Stück in Cider Cove verbringen und praktisch bei Cora und Karl wohnen.
    Doch im Sommer 1983, als Richard siebzehn war, zeigten sich bei ihm bereits Vorzeichen kommender Probleme. Seine Schweige- und Rückzugsphasen wurden länger, und nur Tom und Bobby gelang es hin und wieder, ihn aus dem Haus zu locken, um eine Fahrradtour zu machen oder die in der Abenddämmerung im nahe gelegenen Sumpfgebiet fressenden Vögel zu beobachten. Und im Folgejahr wurde Addie wieder unruhig. Tom machte jetzt einen weniger selbstvergessenen, aber auch unsicheren Eindruck. Was konnte man tun?
    Im Sommer darauf,

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