Die Luft, die uns traegt
hatte sich eine von Tom geliehene CD mit Vogelstimmen angehört, und als sie das unheimliche, vollkommen unmelodiöse, beinahe ertrinkende Geräusch hörte, das die nordamerikanische Rohrdommel macht, wusste sie, dass sie die Verbindung gefunden hatte: ein Vogel, der so merkwürdig und isoliert klang, wie es der arme, einsame Richard gewesen war. Was Scarlet in diesem Augenblick spürte, war eine so deutliche körperliche Empfindung: Sie hatte das Zentrum des Gedichts auf der Scheibe gefunden, dachte sie. Sie konnte sich nur mit Mühe davon abhalten, auf der Stelle Coras Nummer zu wählen. Natürlich hatte sie im Laufe der Jahre schon aus dümmeren und verrückteren – und auch verzweifelteren – Gründen angerufen. Aber, ermahnte sie sich, es war immerhin drei Uhr nachts. Und sie wusste, wie wichtig Cora ihr Schlaf war. Außerdem hätte es bedeutet, das Thema Richard anzusprechen, was sie und Cora schlicht und einfach niemals taten.
In dem Jahr, das Scarlet bei Cora, Karl und Bobby verbrachte, feierten sie nach Brian Kents Verhaftung und Addies Rückkehr nach Burnham alle zusammen in Cider Cove Weihnachten. Tom und Addie machten einen gedrückten Eindruck, aus Gründen, die Scarlet glaubte, sich ungefähr ausmalen zu können, aber nicht weiter verfolgen wollte. Cora und Karl betrauerten zwar immer noch Richards Tod ein Jahr zuvor,
strengten sich aber an, zuvorkommende Gastgeber zu sein. Es gab Weihnachtslieder von der Stereoanlage und Glühmost. Es schneite sogar. Am zweiten Weihnachtstag hielten Bobby und Scarlet es im Haus und mit ihren Eltern nicht mehr aus, und er schlug vor, ins Einkaufszentrum zu fahren, um ihre Geschenkgutscheine einzulösen.
Auf der Rückfahrt in ihrem alten Volvo plapperte Scarlet, die Bobbys grüblerische Art nervös machte, über ihre College-Bewerbungen. Sie hatte sich bei drei Unis in Maine beworben, ohne auch nur eine davon besichtigt oder sich darüber erkundigt zu haben, einfach nur, weil Maine in ihrer Erinnerung der letzte Ort war, an dem sie sich glücklich gefühlt hatte, ungetrübt, unkompliziert glücklich. Das war während des Monats gewesen, den sie, Tom und Addie am Meer verbracht hatten, als Scarlet vierzehn war.
Ganz offenbar fand Bobby Scarlets ziemlich dürftiges Auswahlkriterium für ihre weitere Ausbildungsstätte nicht weiter befremdlich (immerhin würde er selbst sich eineinhalb Jahre später für die State University of New York in Albany entscheiden, weil sein bester Marihuana-Lieferant dort studieren wollte). Er nickte nur und starrte aus seinem Fenster, dann wandte er Scarlet den Kopf zu. »Sie sprechen über Richard, weißt du, jetzt, wo wir nicht dabei sind.« Bei aller düsteren Schweigsamkeit hatte Bobby immer schon eine bemerkenswert gute Menschenkenntnis besessen, er erriet die emotionalen blinden Flecke, die Manöver und Tricks und Schwächen der anderen.
»Wirklich?«, war alles, was Scarlet im ersten Moment einfiel. Dann: »Um was, glaubst du, wird es gehen?«
»Ach, wessen Schuld es war. Meine Mutter wird sagen, dass es ihre war, mein Vater wird ganz unruhig und nervös werden und sich am Feuer im Kamin zu schaffen machen oder dergleichen,
und dann wird deine Mutter wahrscheinlich irgendwas von viel zu vielen Giftstoffen in New Jersey erzählen, und dann wird dein Vater versuchen, sie zu beruhigen.« Daraufhin mussten sie beide lachen. Es war unbestreitbar ein treffendes Porträt ihrer Eltern.
Und tatsächlich erwartete sie im Haus ein beklemmend stilles Wohnzimmer: Das Feuer verglühte, der Glühmost erkaltete in halbvollen Bechern, es lief keine Musik. Man sah, dass sowohl Cora als auch Addie geweint hatten. Karl saß in seinem Sessel, das Kinn auf die Hand gestützt, und starrte in den Kamin. Und Tom stand am Fenster und sah hinaus, als wollte er durch reine Willenskraft einen Vogel, irgendeinen Vogel, dazu bringen, sich auf Coras Futterhäuschen niederzulassen.
Bobby und Scarlet wechselten einen raschen Blick und eilten ohne ein Wort nach oben, jeder in sein Zimmer, um sich die Platten anzuhören, die sie gerade im Einkaufszentrum gekauft hatten. Während Scarlet keinerlei Erinnerung daran hatte, würde Bobby später hartnäckig behaupten, dass er sich REM gekauft und sie sich eine grauenhafte Sammlung klassischer Klavierstücke ausgesucht habe.
»Du meintest, du wolltest einfach keine Worte mehr hören«, erzählte er ihr, und sie glaubte ihm. Sie konnte ihr siebzehnjähriges Ich genau das sagen hören.
Der folgende Winter brachte viel
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