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Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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macht einen beinahe panischen Eindruck«, sagte Cora an einem der seltenen Abende, als sie, Bobby und Scarlet alle zum Essen zu Hause waren. »Ich glaube wirklich, er hat Angst,
er könnte seinen Job verlieren. Und das wäre eine bittere Pille für jemanden, der zwanzig Jahre lang der Ernährer war.«
    Bobby nahm einen großen Schluck Eistee und stocherte in seinem Essen. »Darum geht es nicht, Mama.« Er wich sowohl Coras als auch Scarlets Blick aus. »Er will uns einfach nicht ansehen. Wir erinnern ihn an Richard.«
    Da starrte Cora auf ihren Teller, die Tränen rannen ihr über die Wangen, und in diesem Moment – wie auch in mehreren anderen Momenten in diesem Sommer – hasste Scarlet Bobby.
    Bobby hätte mit dieser Erklärung auch sein eigenes Verhalten beschreiben können. Jeden Abend arbeitete er bis spät in einer von Cider Coves zahlreichen Pizzerias, verschlief dann den größten Teil des Tages und kam erst am späten Nachmittag aus seinem Zimmer, um schnell etwas zu essen, bevor er sich mit seinen Freunden traf – in jenem Sommer plötzlich eine neue, coole Gang, sozusagen die »Szene« von Cider Cove –, um vor der Arbeit zu kiffen. Zum Strand ging er kaum noch.
    Cora verbrachte viel Zeit an ihrer Töpferscheibe. Sie hatte vor Richards Tod einen Kurs belegt, und nun saß sie jeden Tag stundenlang dort und übte. Obwohl ihre Keramik besser wurde, hatte sie noch nicht die dunkle Schönheit der Becher und Krüge erreicht, die sie am Ende herstellen würde – das schwarze Raku mit der feurig roten Nuance unterhalb der rauen Glasur. In jenem Sommer 1985 machte sie nur erste »Fingerübungen«, wie sie es nannte. Trotzdem hörte Scarlet Cora für ihr Leben gern über das Gefühl sprechen, wenn der Ton sich in ihren Händen ideal formte, wenn der Rhythmus ihres Fußes auf der Antriebsscheibe die perfekte Harmonie mit dem Modellieren ihrer Fingerspitzen erreichte.
    Selbst Scarlet war selten im Haus anzutreffen, da sie sehr früh zu ihren beiden Jobs in Cape May aufbrach, wo sie vormittags Zimmer in einem der Strandhotels putzte und nachmittags
in einer Eisdiele an der Promenade hinter dem Tresen stand. Gegen sechs kam sie zurück, zu müde, um sich zu rühren, woraufhin Cora von ihrer Töpferscheibe aufstand, um ihr etwas zu kochen. Danach machte Scarlet, belebt vom Essen und Coras Gesellschaft, an den meisten Abenden noch einen Strandspaziergang mit ihr. Cora war eigentlich in jenem Sommer Scarlets einzige Freundin. Und Scarlet hatte das Gefühl, keine andere zu brauchen.
    Auf ihren Spaziergängen zeigten sie sich gegenseitig Vögel. Scarlet sprach über Addie und Tom, und Cora hörte zu, ohne zu kritisieren, ohne zu verteidigen. Die einzigen Themen, die sie den ganzen Sommer über und auch danach noch mieden, waren Richard und Bobby.
    Im Herbst ergatterte Scarlet einen besseren Job als Kellnerin in einem Pancake-Restaurant in Cape May, und sie besuchte pflichtbewusst den Unterricht an der Cider Cove Highschool. Was für eine Wohltat es war, in dieses stille, oft leere alte Haus zurückzukommen, nach diesen furchtbaren Wochenenden mit Addie und Tom bei Lou in Washington, wo Addie und Lou tranken und lachten, als wären sie auf einem fröhlichen Klassentreffen, Tom kläglich und stumm auf seinen Teller starrte, und Ted jeden Abend einen anderen Streit vom Zaun brach, mal mit Lou, mal mit Addie, mal mit beiden. Doch hier in Cider Cove war das einzige Geräusch, das Scarlet hörte, wenn sie die Tür aufschloss, das Surren von Coras Töpferscheibe. Es mochte die Stille der Realitätsflucht gewesen sein – Richards trauriger und wütender Geist, der dort über Karl, dem Workaholic, Bobby, dem ziellosen Kiffer, und Cora, der einsiedlerischen Künstlerin mit einer sechzehnjährigen Außenseiterin zur Freundin, schwebte. Aber für Scarlet klang es schön.
    »Es ist schwer zu erklären«, sagte Cora einmal mit glänzenden Augen zu ihr, »aber es ist einfach ein sehr sinnliches, physisches
Erlebnis, wenn ein Gefäß auf der Scheibe sein Zentrum findet. Man spürt es im eigenen Körper, und doch ist es, als hätte man überhaupt nichts damit zu tun.«
    Scarlet beneidete Cora darum, sehnte sich danach, so – so verankert, so überschwänglich – für etwas, irgendetwas in ihrem eigenen Leben zu empfinden. Jahre später entdeckte sie die Verknüpfung, nach der sie suchte, zugleich sinnlich und verbal, mitten in der Nacht in ihrem Zimmer in Amherst in einem Gedicht, das sie über Richard zu schreiben versuchte. Sie

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