Die Luft, die uns traegt
Schnee und einige Fahrten nach Burnham, um diverse Antragsformulare auf Studienbeihilfen auszufüllen. Weihnachten hatten Tom und Addie gefragt, ob Scarlet für ihr letztes halbes Schuljahr mit ihnen nach Burnham zurückkehren wollte. »Ich glaube, es ist leichter, wenn ich es einfach hier fertigmache«, hatte sie ihnen geantwortet, recht kühl, wie es ihr später vorkam. Keiner von beiden versuchte, sie zu überreden.
Scarlet konnte sehen, dass an Weihnachten etwas zwischen
Addie und Cora vorgefallen war, vermutlich etwas mit Richard, wenn Bobby Recht hatte. Cora erwähnte es nicht, und Scarlet fragte nicht danach. Aber einige Wochen später, als ein Päckchen von Addie für Cora eintraf, schlich Scarlet so lange um den (damals noch nicht Werkstatt genannten) Raum im Erdgeschoss herum, in dem Cora ihre Tage verbrachte, bis sie einen Blick auf den Inhalt des Pakets erhascht hatte: Tagebuchblätter und Briefe von Käthe Kollwitz. Scarlet las das Buch, heimlich und gierig, spätnachts, nachdem Cora ins Bett gegangen war.
Als sie im März ihre Frühlingsferien in Burnham verbrachte, war Scarlet erstaunt, Addie mit den toten Vögeln arbeiten zu sehen, die sie seit mehr als einem Jahr sammelte. Erstaunt, aber auch etwas angeekelt. Und zu diesem Zeitpunkt nicht annähernd in der Lage, auch nur die geringste Verbindung zwischen ihrer Mutter und Käthe Kollwitz herzustellen – die, neben Cora, in Scarlets Augen zur ultimativen Künstlerin-Mutter geworden war.
Während ihres letzten Sommers in Cider Cove putzte Scarlet wieder vormittags Hotelzimmer und kellnerte mehrere Abende die Woche. Bobby schien nostalgische Anwandlungen zu haben, weil sie bald fortgehen würde, und fand ab und zu die Zeit, mit ihr zum Strand zu gehen, um alter Zeiten willen. So traf sie sonnengebräunt bei der Orientierungsveranstaltung für Studienanfänger des Bates College ein, wie viele ihre Kommilitonen.
Allerdings stammte diese gesunde Hautfarbe in den meisten Fällen von Ferien an Orten wie Mount Desert Island, Martha’s Vineyard oder Cape Cod. Scarlet lernte schnell, sich in Bezug auf ihre Sommer an der bescheidenen Küste von Jersey bedeckt zu halten. Außerdem verbrachte sie danach selbst mehrmals die Semesterferien in nobleren Gefilden – Provincetown
im ersten Jahr, Nantucket im nächsten. Man konnte immer kellnern gehen, stellte sie fest. Das war eine Fertigkeit, die sich gut übertragen ließ, selbst aus New Jersey.
Doch sie verlor nie ihre Liebe zu Cider Cove, zur Küste von Jersey, die in Scarlets Augen immer herrlich, nie bescheiden gewesen war. Das Schläfrige, das Unauffällige einer Stadt wie Cider Cove (es war kein Zufall, dass einer der romantischsten Schauplätze aus Scarlets einsamer, verträumter Jugendzeit das mit Brettern vernagelte Main Street Diner war), die Anmutung verblasster Pracht in weiten Teilen von Cape May, die typischen Fudge- und Taffygeschäfte, die Flipperautomaten, den Geruch nach totem Fisch und Zuckerwatte und sturmgepeitschter Meeresluft: All das liebte sie.
Es waren die Neubauten am Rande der beiden Städte – das Days-Inn-Hotel und das Denny’s-Restaurant in Cider Cove, die kostspieligen Eigentumswohnanlagen in Cape May –, die Scarlet verabscheute. Sie war trotz allem die Tochter ihrer Mutter. Und auch ihres Vaters, weshalb sie nie genug davon bekam, auf den abendlichen Spaziergängen mit Cora die tauchenden Kormorane zu beobachten und die im Sonnenuntergang orange leuchtenden, mit Strandhafer bewachsenen abgesperrten Dünenbereiche nach dem seltenen Anblick einer Familie nistender Regenpfeifer abzusuchen.
Diese gewundene, überfüllte Küste, diese umkämpfte Bucht – so viel komplizierte Koexistenz. Addie mochte ja der Ansicht sein, dass der Staat New Jersey ganz besonders leichtfertig mit Umweltverschmutzung umging, aber auch sie liebte diesen Landstrich. Im Endeffekt konnten weder Addie noch Tom noch Scarlet, wenn sie sich aus ihrem geschützten Tal am Nisky Creek hinaus über den breiten, breiten Delaware River und an die Küste aufmachten, mit den makellosen Stränden, die sie andernorts vorfanden, so recht viel anfangen.
»Das Reich der Privilegierten«, kommentierte Addie beispielsweise an einem reinweißen Strand an der Spitze Long Islands oder am nordöstlichen Rand von Cape Cod. Wobei natürlich schwer etwas dagegen einzuwenden war, wenn Tom zu bedenken gab, dass nur die Privilegierten über die nötigen Mittel verfügten, solch fantastische Lebensräume zu bewahren.
»Stellt
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