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Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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beide versuchten, ihre Tränen zu verbergen. Still liefen sie zurück zum Haus, er hielt ihre Hand.
    Später frühstückte Scarlet mit Cora, während Bobby schlief. Er war noch nicht wach, als sie ihre letzten Sachen in den Volvo warf und losfuhr, um noch eine Nacht im Cottage in Burnham zu verbringen, ehe Tom und Addie sie am nächsten Tag nach Maine fahren würden.
    Es war eigenartig, ein solches Geheimnis vor Cora zu haben. Doch Scarlet erzählte ihr nie davon. Abgesehen von den offensichtlichen Gründen, war sie sich einer Sache sehr bewusst: Cora würde wissen, dass das alles irgendwie mit Richard zu tun hatte. Und es würde sie furchtbar traurig machen.
    Und nun, sechzehn Jahre später, hatte Scarlet noch ein
Geheimnis. Eines, das sie allen verschwieg, außer Tom und Addie, die das Gesicht ihrer Tochter in ihren dünnen, trockenen Händen gehalten, ihr ihren Segen gegeben und, bevor sie starb, geweint hatte, weil sie ihr Enkelkind nie sehen würde.

IV
Zugunruhe

Vierzehn
    MAI 2002
    »Ich habe John heute Morgen angerufen«, sagt Tom, als Scarlet aus dem Bad zurückkommt. Sie hatte nie ein enges Verhältnis zu ihrem Onkel – er und Addie sprachen sich nur selten –, aber seinen Namen zu hören, versetzt ihr dennoch einen Stich. Sie stellt fest, dass sie in den vergangenen Tagen kaum an ihn gedacht hat. Sollten Bruder und Schwester, Nichte und Onkel, sollten nicht alle Verwandten eine stärkere Verbindung miteinander haben?
    Erwartungsvoll legt sie den Kopf schief und sieht Tom an. »Und?«
    »Er möchte wissen, wann die Aussegnung stattfinden soll und wohin er Blumen schicken kann.«
    Lou stößt ein schnaubendes Gelächter aus, und Cora lächelt.
    Scarlet steht im Türrahmen zwischen Küche und Veranda, sie ist ruhelos, zögert, sich wieder hinzusetzen. Vor ein paar Minuten, als Cora mit einer frischen Kanne Kaffee zurückgekehrt war, hatte sie das Gefühl gehabt, endlich aufs Klo gehen zu können, weil Tom und Lou nicht allein bleiben würden. Sie ist durch die Zimmer des alten Hauses gewandert, das jetzt mit

    Bauernmöbeln und dicken Teppichen eingerichtet ist, mit frischen weißen Laken und warmen Decken auf den Betten und Coras Schüsseln und Vasen diskret hier und da in den Ecken, einigen auch als Schmuck auf den Simsen der drei offenen Kamine. Als Pension ist das Haus heute in beträchtlich besserem Zustand als in jenen Tagen, da Scarlet, Tom und Addie zum ersten Mal nach Cider Cove kamen – die Wände sind in einem sauberen Weiß gestrichen, überall neue Fenster eingebaut, die alten Holzböden poliert.
    Allerdings knarzen die Dielen immer noch und hängen durch, und es sammelt sich weiterhin der Sand in den Ritzen. Scarlet hat tief eingeatmet, während sie die Räume durchstreifte, und im vertrauten Geruch des Hauses geschwelgt, der Mischung aus Kaffee und Frischgebackenem, untermalt von frischer Meeresbrise. Egal welche Jahreszeit, jeden Morgen öffnet Cora die Fenster und hängt sämtliches Bettzeug zum Lüften in die Sonne oder den Nebel, selbst manchmal bei leichtem Schneefall. Nach ihrem Rundgang durch das obere Stockwerk war Scarlet kurz draußen, wobei sie Dustin und seinem unablässigen Sägen und Hämmern sorgsam aus dem Weg ging. Sie hat nach dem Rauschen der Wellen gehorcht und das Flattern all der Steppdecken (die meisten davon aus Betten, in denen vergangene Nacht nicht geschlafen wurde) im Wind beobachtet.
    Als Scarlet nun zurück auf die Veranda kommt, ist sie überrascht, die drei anderen immer noch auf denselben Stühlen, immer noch Kaffee trinkend vorzufinden. Es geht auf Mittag zu. Ihr Spaziergang durch den Garten hat sie daran erinnert, dass es draußen eine Welt gibt und dass die Zeit weiterläuft. Wie lange können sie sich hier verstecken, sich gemächlich unterhalten, dem, was nun zu erledigen ist, aus dem Weg gehen?

    »Aber wisst ihr«, sagt Lou, als Scarlet hereinkommt, »eine Art Gedenk-Wasauchimmer wäre schon gut, findet ihr nicht?« Sie beugt sich nach vorn, jetzt wieder ernst. »Ich meine, sie hatte doch alle möglichen Freunde und Bewunderer überall, besonders in den letzten paar Jahren. Wir könnten vielleicht etwas in meinem Haus veranstalten …«
    Cora lacht. »Du kleine Washingtoner Gastgeberin, du«, sagt sie.
    Lou verzieht kurz leicht unmutig das Gesicht, dann zuckt sie die Achseln und lächelt, lehnt sich wieder an die Stuhllehne und streift ihre Sandalen ab.
    »So etwas wollte Addie auf keinen Fall«, sagt Scarlet, die sich an eine Bemerkung ihrer Mutter

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