Die Luft, die uns traegt
vor zwei Tagen erinnert. »Bloß keine Lobeshymnen auf mich oder so was Albernes«, hatte sie gesagt. »Kein öffentliches Verlesen von Gedichten – nicht einmal von deinen, mein Schatz, so sehr ich sie liebe. Und um Himmels willen, keine Schnittblumengestecke.«
Wobei Scarlet dann doch zwei ihrer Gedichte las, aber nur für Addie und auf ihren Wunsch hin, am gestrigen Morgen – die beiden, die Addie, wenig überraschend, am liebsten mochte: All der Schmutz und die Zerstörung (Scarlets Hommage an Käthe Kollwitz und indirekt an ihre Mutter) und Der Gesang der Rohrdommel , das Gedicht der Massachusetts-Mitternachts-Offenbarung. Das, sagte Addie, sei eindeutig einer Lesung in einem Raum voller Zuhörer ohne den passenden Kontext vorzuziehen. Und einer Lesung, die sie selbst, da sie ja dann tot wäre, nicht einmal mehr zu hören bekäme.
»Sie hat sogar«, sagt Scarlet nun, da es ihrer Ansicht nach Zeit wird, sich endlich mit dem anstehenden Problem zu befassen, wenn sie alle sich schon extra aus diesem Grund hier in Coras Wintergarten versammelt haben, »ganz ausdrücklich ihre Wünsche geäußert, was jetzt passieren und nicht passieren
soll, und ich glaube, wir sollten uns besser Gedanken darüber machen, wie wir mit einigen ihrer Vorstellungen verfahren wollen …« Ein Blick ihres Vaters bringt sie zum Schweigen.
»Wir wissen, was wir tun werden, Scarlet«, sagt er leise.
Ach, wirklich ?, denkt sie. Sie kann sich nicht vorstellen, was er meint. Kann er denn meinen, dass sie in zwei Staaten gegen Gesetze verstoßen (nicht, dass sie Zeit gehabt hätte, das zu recherchieren) und Toms gesamte Karriere und seinen Ruf aufs Spiel setzen werden, und alles nur wegen Addies Wut auf Bert Schafer und das Burnham College, wegen ihres Drangs, sich noch ein letztes Mal zu Wort zu melden, selbst wenn sie schon tot ist?
»Habt ihr darüber gesprochen?«, fragt sie.
»Nein.« Tom wirft ihr einen Blick zu, den sie nicht entschlüsseln kann. »Nicht so konkret. Wir haben einfach nur an Addie gedacht, ihr auf die Art ein ›Denkmal‹ gesetzt, die ihr bestimmt gefallen hätte, nämlich indem wir uns unterhalten und an alte Zeiten erinnern. Ich glaube wirklich, dass sie sich so etwas gewünscht hätte, du nicht, Liebes?« Er klopft auf den Stuhl neben sich und signalisiert seiner Tochter damit, sich zu setzen und weniger angenehme Themen nicht anzusprechen.
»Weißt du«, fährt er fort, als Scarlet seiner Aufforderung folgt, »John hat mich auch daran erinnert, dass ihre Eltern sowohl für Addie als auch für mich Grabstellen gekauft hatten, gleich neben ihren eigenen.«
»In Scranton ?« Eine weniger geeignete letzte Ruhestätte kann Scarlet sich für ihre Eltern kaum vorstellen. »Wusstest du davon?«
»Ja«, meint Tom und nippt ruhig an seinem Kaffee. »Ja, ich wusste es, obwohl ich es wieder vergessen hatte. Addie hat mir das vor langer Zeit erzählt. Damals, als dein Großvater krank wurde, haben sie für die ganze Familie Gräber gekauft.
Ich muss sagen, Addies Reaktion darauf hat mich überrascht. ›Möchtest du deinen Eltern sagen, dass wir bestimmt lieber verbrannt werden möchten?‹, fragte ich sie, und sie verneinte. ›Warum sie damit belasten?‹, sagte sie. ›Sehr wahrscheinlich sterben sie lange vor uns, also werden sie gar nicht erfahren, was mit diesen anderen Grabstellen passiert.‹«
Tatsächlich waren beide vor Addie gestorben, ihr Vater, als Scarlet zwölf war, ihre Mutter vor drei Jahren.
»Es hat mich immer gewundert, was für einen Beschützerinstinkt sie ihren Eltern gegenüber hatte«, sagt Cora.
»Oder wie viel Angst vor ihnen«, meint Scarlet.
»Meiner Ansicht nach trifft es das beides nicht so ganz«, sagt Tom. »Aber ich glaube wirklich, dass sie mehr für die beiden empfand, als sie sich je anmerken ließ.« Er nippt wieder an seinem Kaffee. »Da ist sogar eine Grabstelle für dich auf dem Friedhof von Scranton vorgesehen, Scarlet.«
Als sie das hört, lacht Scarlet und bricht dann unvermittelt ab. Darüber hat sie noch nie nachgedacht – ob sie eingeäschert oder begraben werden will, oder auch, wo. Sind das die Dinge, mit denen man sich allmählich befassen musste, überlegt sie, als künftige Mutter? Sie lässt sich das flüchtig durch den Kopf gehen und kommt zu dem Schluss, dass es vielleicht gar nicht so übel wäre, neben ihren süßen alten Großeltern auf einem Friedhof in Scranton zu liegen. Leichter durchführbar auf jeden Fall, als ein Platz neben ihrer Mutter – falls
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