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Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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Addie ihren Willen bekommt.
    »Kann man ein Grab auch wieder verkaufen?«, fragt Scarlet nur halb im Scherz.
    »Weiß ich nicht«, antwortet Tom. Er klingt aufrichtig verwirrt. »Auf die Idee bin ich noch nie gekommen.«
    »Vielleicht macht man beim Wiederverkauf Verlust«, sagt Cora, und alle lachen etwas verlegen.

    »Aber warum?«, fragt Scarlet. »Es wird ja nicht benutzt.«
    »Stimmt.« Cora lacht wieder. »Es ist bestimmt noch nicht mal ausgehoben. Einfach nur ein unberührtes Fleckchen Erde.«
    »Wenn auch natürlich ordentlich gemäht und gewässert und gedüngt«, ergänzt Tom.
    »Werden Friedhöfe gedüngt?«, fragt Scarlet ungläubig. »Ich meine, ist das überhaupt nötig?«
    »Glaubst du, ein Leichnam, der randvoll mit Einbalsamierungsflüssigkeit und vakuumverpackt in einem gepanzerten Sarg ist, gibt auch nur einen einzigen Nährstoff in den Boden ab?«, fragt Tom.
    Und dann lacht Scarlet nicht mehr. Ganz eindeutig haben Tom und Addie darüber schon wer weiß wie lange diskutiert, denkt sie. Vielleicht ist das gar keiner von Addies typisch haarsträubenden Plänen. Könnte es sein, dass Tom die ganze Zeit Bescheid wusste? Immerhin ist er derjenige, der seit einem Jahr darauf beharrt, einen Pappelwaldsänger auf der Hügelkette oberhalb ihres Hauses gesichtet zu haben. Und der sich nicht weiter dazu geäußert hat, dass Addie ihrerseits behauptete, einen längst ausgestorbenen oder sogar frei erfundenen Vogel gesehen zu haben. Außerdem hat er endlose Briefe geschrieben, deren Zweck vermutlich darin besteht, das Burnham College zu beschämen, damit die Verwaltung Bert Schafers Angebot ablehnt und somit die Bebauung der Gebiete rund um den Nisky Creek und den Kleine Creek verhindert. »Welche höhere Bildungseinrichtung würde einer extrem seltenen Vogelart Asyl verweigern, würde diese echte Chance für ein weiteres Einkaufszentrum und einhundert neue protzige Fertighäuser opfern?«, begann der Leserbrief, der im letzten Herbst im Philadelphia Inquirer abgedruckt wurde – eine Veröffentlichung, die ihn bei Verwaltungsangehörigen des College oder auch der erheblichen Anzahl von Fakultätsmitgliedern,
die den Verkauf unterstützen, nicht gerade beliebt gemacht hatte.
    Doch trotz alledem, trotz seiner Anstrengungen im Namen zweier Vogelarten, von denen Addie eine, wie die meisten Leute glauben, gar nicht wirklich gesehen hat, und trotz des mit Sicherheit irreparablen Schadens, den die ganze Sache selbst unter seinen Anhängern und Unterstützern seinem Lebenswerk zugefügt hat, war Tom doch immer der Vernünftige von den beiden. Vernünftig und praktisch veranlagt, inmitten von Addies Exzessen. Ganz bestimmt wird er das auch jetzt sein, redet Scarlet sich ein und nimmt sich vor, keine Fragen mehr zu stellen. Sie lehnt sich in ihrem Stuhl zurück und erwidert das rätselhafte Lächeln ihres Vaters. Es tut gut, einfach über alles zu lachen, über das Dilemma der richtigen Ruhestätte für Addies ruhelosen Körper. Es tut gut, sich einzubilden, dass Tom eine perfekte Lösung gefunden hat und dass Scarlet sich einfach entspannen und sich ihrem Vater bei der umsichtigen Abwicklung der ganzen Sache anschließen kann. Was selbstverständlich bedeutet, denkt sie, dass sie eine Einäscherung arrangieren. Trotz Addies Behauptung, das sei für die Umwelt beinahe genauso schädlich wie ein traditionelles Begräbnis.
    »Das stimmt nicht, weißt du«, hat Tom vor zwei Wochen zu Scarlet gesagt, nachdem Addie ihren Wunsch geäußert hatte und danach eingeschlafen war und Tom und Scarlet aus dem Zimmer gegangen waren.
    »Was stimmt nicht?« Scarlet schwirrte immer noch der Kopf von dem Gespräch, das sie gerade geführt hatten, von Addies nun, da sie so schwach war, kaum vernehmlichem Flüstern, in dem sie so nüchtern und sachlich über die Einzelheiten ihres Todes gesprochen hatte.
    »Was Addie über Einäscherung gesagt hat. Sicher werden
einige Toxine freigesetzt, aber so schlimm ist das auch wieder nicht. Ich glaube, sie hat andere Gründe.«
    In diesem Moment wurde Scarlet von Erschöpfung übermannt, und außerdem war ihr schlecht. Es war später Nachmittag, die schlimmste Tageszeit für sie. Sie hatte offenbar keine Morgen-, sondern Nachmittagsübelkeit. »Ich kann jetzt nicht mehr darüber sprechen«, sagte sie und floh ins Badezimmer.
    Als sie sich nun an Toms Bemerkung erinnert, möchte sie mehr über Addies – und seine – Ansichten zur Feuerbestattung erfahren. Warum können sie Addies Asche nicht

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