Die Luft, die uns traegt
einfach auf der Hügelkette zwischen den beiden Bächen verstreuen? Aber das kann sie jetzt nicht fragen, nicht wenn Cora und Lou dabei sind. Also brütet sie eine Weile über ihren eigenen Gedankengängen, macht sich erneut Sorgen, wie sie das Problem lösen werden. Natürlich können sie Addies letzten Wunsch nicht respektieren. Oder? Sie können sie doch unmöglich illegal begraben – und nicht nur das, nicht nur Addie irgendwo außerhalb eines Friedhofs beerdigen, sondern auch noch auf einem Stück Land, das ihr und Tom nicht einmal gehört?
Doch falls Addie wirklich starke Einwände gegen eine Einäscherung hatte, was könnten sie dann sonst tun? Vielleicht sie in Scranton begraben – wo sie voraussichtlich einbalsamiert werden müsste. Scarlet dreht sich der Magen um, etwas Säuerliches und Gefährliches wandert ihre Kehle hoch, als ihr Addies Beschreibung einer Einbalsamierung wieder einfällt. Sie schließt die Augen und drängt die Erinnerung zurück.
Tom und Cora lachen gerade wieder, vermutlich über irgendetwas, das Addie getan hat. Scarlet hört nicht mehr zu. Doch Lou, bemerkt sie, beteiligt sich ebenfalls nicht länger an der allgemeinen Heiterkeit. Sie ist merklich unruhig geworden, rutscht auf ihrem Stuhl herum, nestelt an ihrem Pullover.
Sie wendet sich an Tom. »Über was hast du denn nun eigentlich in diesen letzten Tagen mit Addie gesprochen?«
Plötzlich herrscht Stille im Raum. Es ist jetzt deutlich nach Mittag, und die Luft ist regungslos. Kein Vogel ruft oder singt noch, und selbst die Wellen am Strand scheinen sich beruhigt zu haben. Scarlet spürt, wie sie wieder zu schwitzen beginnt. Als Tom zu Lou sagt: »Wir haben uns nicht mit der Vergangenheit befasst, Lou«, sieht Scarlet Cora an, deren Lächeln verschwunden ist. Und da ist es wieder: etwas nicht Greifbares, Beklemmendes, das vorher schon einmal im Raum lag.
Scarlet entschließt sich, den Wintergarten wieder zu verlassen. In der Küche gießt sie sich ein großes Glas Wasser ein, und während sie es langsam austrinkt, kann sie Lou in der Stille schniefen hören.
»Aber die letzten drei Tage haben wir doch nichts anderes getan, als uns mit der Vergangenheit zu befassen – mit all den dummen kleinen Einzelheiten der Vergangenheit«, sagt Lou plötzlich, ihre Stimme klingt ungewohnt hoch. »Es gab so vieles, was ich sagen wollte, hätte sagen müssen, aber es war nie Zeit . Und wisst ihr, warum? Weil wir ununterbrochen das getan haben, genau das hier – lachen und Witze machen und in Erinnerungen schwelgen, wie wir es immer getan haben, einfach weitermachen, als wäre alles in bester Ordnung, als würden wir uns einfach nur mal wieder am Meer treffen. Dabei, mein Gott, lag sie im Sterben . Und es gab Dinge, die ich ihr hätte sagen sollen …« Sie schluchzt erstickt. »Und jetzt werde ich nie wieder mit ihr sprechen können.«
Scarlet schiebt sich Richtung Türrahmen, beobachtet, wie Cora versucht, Lou eine Serviette zu geben. Doch Lou, die mit geschlossenen Augen vor- und zurückschaukelt, sieht es nicht. Auf Coras Wangen sieht man ebenfalls Tränen. Vielleicht, denkt Scarlet, sollte sie auch weinen.
Aber ihr ist jetzt nicht nach Weinen zumute. Vielleicht hat sie es immer gewusst, erkennt Scarlet – gewusst, dass etwas mit Lou passiert war. Es war einfach da, nachdem Addie aus Washington zurückkam. Irgendwie merkte Scarlet, dass sich zwischen ihren Eltern etwas verändert hatte. Seitdem lag etwas Merkwürdiges in der Luft, so schien es, eine Schwere, etwas, das vorübergehend den Atem lähmte, wenn sie gemeinsam in einem Raum waren. Genau das , dieses flüchtige, aber hartnäckige Ringen nach Luft, hatte, ebenso sehr wie Addies diverse Eskapaden, Scarlet dazu veranlasst, in jenem Jahr, das sie in Cider Cove verbrachte, nach den Weihnachtsferien nicht nach Burnham zurückzukehren.
Natürlich war da auch noch etwas anderes zwischen ihren Eltern gewesen – der erste Knoten, den Addie entdeckt hatte, die Angst um ihre Gesundheit. Aber das hatten sie vor Scarlet geheim gehalten. Sie hatte es erst drei Jahre später erfahren, als Addies Krebs voll ausgebrochen war. Möglicherweise war das – diese grauenhafte Zusammenkunft in der Praxis des Onkologen, etwa einen Monat später gefolgt von ihrem Familienausflug nach New York in die Käthe-Kollwitz-Ausstellung in einer Galerie auf der 57th Street – das erste Mal gewesen, dass Scarlet ahnte: Es gab Dinge, die sie über ihre Mutter und ihren Vater nicht wusste.
Lou spricht
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