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Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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weiter, immer noch schaukelnd, die Augen immer noch geschlossen. »Wisst ihr, warum ich es wirklich tragisch finde, wie wir in den letzten Tagen gelacht und gescherzt und so getan haben, als wäre alles in bester Ordnung? Weil ich jetzt das Gefühl habe, dass ich Addie zwar über dreißig Jahre lang kannte, dass ich aber heute, am Tag nach ihrem Tod, nicht mehr über sie weiß – darüber, wer sie tatsächlich war, was tatsächlich in diesem schönen, störrischen, einen in den Wahnsinn treibenden Kopf vorging – als damals mit zwanzig!«

    Daraufhin schweigen alle einen Augenblick. Scarlet sieht Tom wieder an, er wirkt friedvoll, beinahe unbeteiligt. Sie erschrickt, als Cora zu sprechen anfängt.
    »Würde es wirklich etwas verändern, das alles zu wissen, Lou?«, fragt sie, den Blick auf den Tisch vor sich gerichtet, wo sie ein Häufchen Krümel hin- und herschiebt.
    Zu ihrer Überraschung stellt Scarlet fest, dass sie ihre Mutter verteidigen möchte, ihre Sturheit, ihre verschlossene Art. »Wenn man versucht hat, ihr solche Fragen zu stellen«, sagt sie, »ihr wisst schon: ›Worum geht es eigentlich bei dem Ganzen, Addie? Was bringt dich dazu, deine Zeit mit einsamen Halbwüchsigen zu verbringen, Kämpfe mit irgendwelchen Baulöwen auszufechten?‹ Dann konnte man sich praktisch darauf verlassen, einfach nur einen ihrer Vorträge gehalten zu bekommen. Zum Beispiel über die Gefahren der Küchenpsychologie und die Energie, die übermäßig auf den Versuch vergeudet wird, das ›Ich‹ zu verstehen.«
    Tom lächelt. »Häufig ein Vortrag komplett mit Verweis auf neueste wissenschaftliche und pseudowissenschaftliche Erkenntnisse«, sagt er mit Blick auf Cora, dann bedeutet er Scarlet, sich wieder neben ihn zu setzen.
    »Deshalb mochte ich es, zu lachen und in Erinnerungen zu schwelgen«, sagt Cora schließlich, fegt sich den Krümelhaufen vom Tisch in die Handfläche und lässt ihn auf einen Teller fallen. »Ich möchte an meinen letzten Stunden mit Addie absolut nichts ändern.« Sie zuckt die Achseln. »Nennt mich ruhig eine unverbesserliche Optimistin.«
    Als sie das sagt, stellt Scarlet plötzlich mit einer überwältigenden Erleichterung fest, dass sie mit ihren letzten Momenten mit Addie ebenfalls vollkommen im Reinen ist. Im Gegensatz zu Lou hat sie gesagt, was sie sagen wollte. Und im Gegensatz zu Lou stört Addies Mysterium sie nicht. Jetzt nicht.
    Vor zwei Tagen abends hatte sie die Hand ihrer Mutter gehalten und ihr in die Augen gesehen, die erstaunlich klar waren, trotz der sichtlichen Schmerzen. Addie hatte die Medikamente, die ihr die Hospizmitarbeiter anboten, abgelehnt, solange sie konnte. Sie wolle so klar im Kopf bleiben wie nur möglich, meinte sie. Scarlet blickte also in diese außergewöhnlichen, undurchdringlichen Augen und sagte: »Du hast mir so viel beigebracht.« Die Worte schienen eigenartigerweise aus ihrer Brust zu kommen, in der sie einen sehr realen Schmerz spürte.
    Denn Addie hatte ihr tatsächlich eine Menge beigebracht, und in diesem Moment konnte Scarlet es erkennen, und sie sehnte sich danach, noch mehr von ihrer Mutter zu lernen. Wer sonst hatte ihr denn die Erlaubnis gegeben, Dichterin zu werden? Wer außer Addie, und natürlich auch Tom, hatte sie all diese Jahre eine Stimme suchen und finden – und sie auch benutzen lassen, ohne Rechtfertigung, ohne Reue? Wer hatte sie in jenem Jahr von zu Hause an die Küste fliegen lassen, ohne auf sie einzureden, ohne zu streiten, ohne sie mit Schuldgefühlen zu belasten? Und nun, an der Schwelle zu dieser völlig neuen Daseinsform als Mutter (was für Scarlet weit rätselhafter ist, als eine Dichterin zu sein), sehnte sie sich verzweifelt nach Addies Gewissheit, ihrer wütenden Weisheit, ihren hart erkämpften Einsichten. Egal, wie sehr Scarlet sich im Laufe der Jahre darüber geärgert haben mochte.
    Es stimmt wirklich, dass man spüren kann, wie das eigene Herz bricht , dachte sie in dem Augenblick verwundert. Und unwillkürlich sah sie ein Gedicht vor sich.
    Addie las ihre Gedanken. »Verschwende bloß keine wertvolle Tinte auf Gedichte über mich«, sagte sie. Ihre Stimme, wenn auch so leise, dass Scarlet den Kopf ganz nah neben ihren halten musste, um sie zu hören, war so klar wie ihre Augen.
»Schreib über dein Kind, schreib über alles, was du als Mutter lernst und fühlst …« Sie brach ab, und Scarlet konnte sehen, wie sie sich in den Schmerz zurückzog. Das Reden erschöpfte Addie merklich, und Scarlet wollte, dass sie

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