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Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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Hoffnung, auch Scarlet würde einen Blick hineinwerfen. Sie wollte, dass beide es lasen, obwohl sie nicht hätte sagen können, was für eine Botschaft genau sie ihnen mit dieser Beschreibung eines Lebens als Mutter und Künstlerin – fröhlich und produktiv am einen Tag, erfüllt von Verzweiflung und Selbstzweifeln am nächsten – vermitteln wollte.
    Dem Buch legte sie einen Zettel bei, auf dem schlicht stand: »Es tut mir leid.« Sie hoffte, Scarlet würde den Brief ebenfalls sehen. Er hätte sowohl an ihre Freundin, als auch an ihre Tochter gerichtet sein können. Das war Addies, wenn auch indirekter, Versuch, sich bei beiden zu entschuldigen.
    In den Monaten nach jenem schmerzlichen Weihnachtsfest in Cider Cove widmete Addie einen Großteil ihrer Zeit dem Sammeln, Ausstopfen und Konservieren toter Vögel, wobei sie das winzige »Museum« des College, für das Tom die Lizenz besaß, nutzte, um ihre Arbeit zu rechtfertigen – anfangs zumindest. Seit Jahren brachten die Leute ihr und Tom tote Vögel, in der Überzeugung, die schimmernd blauschwarze Grackel oder der farbenprächtige Dunenspecht, die sie in ihrem Garten gefunden hatten (Erstere zweifellos von der Katze dort deponiert,
Letzterer wahrscheinlich einem desorientierten Flug frontal gegen das große Erkerfenster zum Opfer gefallen), sei eine seltene und exotische Spezies, tropisch vielleicht sogar, dem auffälligen Gefieder nach zu urteilen. Andere, aufmerksamere und besonnenere (und oft ältere) Menschen brachten weniger gängige Arten: einen Lerchenstärling, eine Zwergdrossel, einen Eckschwanzsperber. Tote Vögel waren immer ein Teil von Addies und Toms gemeinsamem Leben gewesen, sozusagen ein Berufsrisiko für einen Ornithologen und eine Vogelmalerin.
    Wie starben die Tiere? Auf unterschiedlichste Art. Katzen. Hin und wieder auch noch ein Junge mit Luftgewehr. Kollisionen mit großflächigen Fensterscheiben – wie jenen über den Haustüren der neuen Eigenheime in Bert Schafers Burnham Estates, durch die das Licht in deren nach oben offene Eingangsbereiche fiel. Und manche Vögel, beziehungsweise nach Addies Überzeugung sogar die meisten, in jedem Fall mehr als gern zugegeben wurde, waren krank geworden, weil sie von Pestiziden vergiftete Pflanzen oder Insekten gefressen oder verunreinigtes Wasser aus den überall aus dem Boden sprießenden neuen Siedlungen getrunken hatten.
    Zunächst brachte Addie die besser erhaltenen einfach zu Richard Schantz, um sie ausstopfen und präparieren zu lassen. Immerhin war es das, was die meisten Leute, die ihnen die Vögel brachten, zu erwarten schienen. Bald schon sammelte sie auch selbst Kadaver – eine tote Kanadagans, die sie am Leinpfad gefunden hatte, zwei Möwen auf einem Wochenendausflug an die Ostküste. Sie war nicht auf der Suche nach besonders exotischen Trophäen.
    Eines Morgens Anfang Mai kam Addie mit einem Kanadareiher, den ihr jemand vor die Tür gelegt hatte, in Schantz’ Laden. Schantz lachte und sagte: »Sie sollten einfach lernen, das selbst zu machen.«

    »Könnten Sie es mir zeigen?«, fragte sie. Den Gedanken hatte sie auch schon gehabt.
    »Könnte ich schon«, sagte er. »Aber ich würde mal sagen, dass Sie wahrscheinlich schlau genug sind, es sich selbst beizubringen. « Und damit zog er seine eselsohrige Ausgabe von Leon Prays Taxidermie aus einer Schublade seines Schreibtisches. Addie lieh sich das Buch für ein paar Wochen aus und besorgte sich schließlich ein eigenes Exemplar. Selbst Mrs Hodges, die glaubte, in all den Jahren, die sie schon Bücher für Addie bestellte, alles gesehen zu haben, zog bei diesem Titel eine Augenbraue hoch.
    Lange Zeit hätte Addie nicht sagen können, was das eigentlich sollte – die armen Geschöpfe auszunehmen, ihre Kniegelenke und Schwänze zu zerlegen, sie an einer barbarisch aussehenden Apparatur aus Haken und Ketten aufzuhängen, um die Haut besser über die Köpfe und Schultern ziehen zu können. Vielleicht hätte sie Chirurgin werden sollen, dachte sie gelegentlich, wenn sie ganz versunken in die filigrane Arbeit war, Bindehaut oder Ohrschleimhäute abzuschaben, Augäpfel oder Gehirne zu entnehmen. Sie richtete sich eine Werkstatt in dem verfallenen Gartenschuppen hinter dem Cottage ein – ein Bereich, den sowohl Tom als auch Scarlet, wenn sie zu Besuch war, beflissen zu meiden begannen – und bestückte sie mit Werkzeug, das von Skalpellen und Zangen bis hin zu Tischlerhammer, Zwirn und Ballenschnur, verzinktem Draht, Watte, Holzwolle und

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