Die Luft, die uns traegt
sie zu hören geglaubt hatte, als sie vor fünfundzwanzig Jahren als liebeskranke Studentin ziellos durch die englische Landschaft und die Wälder von Pennsylvania gestreift war.
Trotzdem versuchte sie, sich zu freuen, den Besuchern für die Blumen zu danken, die Bücher und Artikel zu lesen, die Tom ihr brachte, und die Käthe-Kollwitz-Ausstellung zu genießen, zu der Tom sie und Scarlet in den Weihnachtsferien dieses Jahres einlud. Niemals in ihrem Leben jedoch hatte sie sich so müde gefühlt. So müde und so krank – und so sicher, dass es dieses Mal nicht aufhören würde.
»So darfst du nicht denken«, beschwor Tom sie mit Tränen in den Augen. »Du musst dir mehr Mühe geben, optimistisch zu sein, Addie. Sonst wirst du wirklich nie mehr gesund.«
Plötzlich hielt Tom, der rationale Wissenschaftler, es mit positivem Denken.
Unermüdlich bemühte er sich, Addies Laune auf jede erdenkliche Art zu heben. Seit Jahren schon liebäugelte er mit einem weiteren Forschungsjahr, das sie vielleicht im Vogelschutzgebiet von Hawk Mountain oder auch in Cider Cove verbringen könnten. Nichts Aufwändiges. Natürlich wären sie jetzt darauf angewiesen, in der Nähe des Krankenhauses in Philadelphia zu bleiben, zumindest für die kommenden Monate. Gleichzeitig kam es Tom aber auch inzwischen weniger drängend vor, Addie aus Burnham wegzubringen, da sie ja nun eine Arbeit gefunden hatte, die, egal wie stark sie sich von der ihrer gemeinsamen Anfangsjahre unterschied, sie sichtlich befriedigte. Oder sie zumindest vor diesem Rückschlag befriedigt hatte.
Vielleicht böte sich das folgende Jahr an, wenn Addies Behandlung vorbei wäre, überlegte Tom. Doch er zögerte, sie danach zu fragen, weil er Angst vor ihrer düsteren Reaktion hatte. Vielleicht, dachte er manchmal, täte es ihr sogar besser, sich zu Hause auszuruhen, als ein Jahr an einem anderen Ort zu verbringen. Vielleicht gäbe es in Cider Cove zu viele schwierige Erinnerungen. Addie wirkte jetzt, zu Hause in Burnham, friedvoll – für Toms Geschmack zu resigniert, das schon, aber wenigstens zur Abwechslung mal friedvoll.
Dennoch lauerten die Machenschaften Bert Schafers immer am Horizont, summten und brummten dort wie eine verstimmte Fiddle, brachten alles aus dem Gleichgewicht. Seit einiger Zeit – und ganz besonders, seit Schafer ein Auge auf das College geworfen hatte und beinahe spöttisch hier und dort Geld verteilte, mit unverkennbar gierigem Blick auf das viele bebaubare Land – graute Tom schon allein vor dem Klang seines Namens, er reagierte darauf inzwischen so heftig wie Addie Jahre zuvor.
Das Unterrichten machte ihm ebenfalls weniger Spaß in jenen letzten Jahren der Reagan-Ära. Die Studenten schienen nur mehr behäbige Konsumenten mit wenig Interesse am Lernen zu sein, gelangweilt von allem – und selbst langweilig. Er wurde allmählich zu einem abgestumpften alten Fakultätsknaben, stellte Tom verzweifelt fest, einem dieser ewig schlecht gelaunten Dinosaurier, die aus ihren vergilbten Unterlagen lehrten und von einer tiefen und hartnäckigen Verachtung für ihre Studenten erfüllt waren: genau die Art von Kollege, die ihn in seinen Anfangstagen als Dozent gleichzeitig amüsiert und geärgert hatte. Es war Zeit für eine Veränderung, das wusste er.
Aber etwas oder jemand kam seinen Plänen für eine weitere Auszeit vom Lehrbetrieb immer in die Quere, jedes Mal. Erst war es Addies mutmaßliche Verstrickung in die Brände
auf den Burnham Estates gewesen, dann Scarlets Auszug, um in Cider Cove die Schule zu beenden. Im folgenden Jahr wäre nach Karls Tod und Coras Rückzug in sich selbst ein Aufenthalt in Cider Cove für alle Beteiligten bestimmt nicht das Richtige gewesen. Und inzwischen mussten natürlich Scarlets Studiengebühren aufgebracht werden, was trotz ihrer großzügigen Stipendien noch eine finanzielle Belastung für ihre Eltern war.
Doch nun, Addies Krankheit und Erschöpfung jeden Tag vor Augen und – was noch verstörender war – ihre offensichtliche Resignation, ihre Unfähigkeit oder mangelnde Bereitschaft, was auch immer, sich gegen diese verdammte Krankheit zu wehren , zog er das Jahr Beurlaubung erneut ernstlich in Betracht. Im Dezember, nach ihrer ersten Dosis Zytotoxin, fragte er sie: »Wie wäre es, wenn wir das nächste Jahr in Cider Cove verbringen würden? Hättest du Lust dazu? Wäre es nicht gut für dich, hier wegzukommen? Woanders könntest du dich vielleicht besser ausruhen.«
Im Prinzip tat sie momentan nichts
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