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Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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Glasaugen reichte.
    Dort also arbeitete Addie jenen Winter und Frühling über bis in Scarlets erstes Jahr auf dem College hinein mit einer verbissenen Begeisterung, die sie ihrem Mann und ihrer Tochter nie erklären konnte. Skizzierte die steifen Kadaver aus verschiedenen Blickwinkeln. Benutzte Farbe und Pinsel nun, um Stellen nackter Haut auszubessern und Schnäbeln und Füßen
eine lebensechtere Färbung zu verleihen. Bearbeitete Häute und bestäubte Federn mit Boraxpulver. Ihr gefiel Prays Unverblümtheit, sein Lob für Borax – das in den Vierzigern, bei Erscheinen des Buches, gerade erst das bis dahin weithin verwendete Arsen zu ersetzen begann – als »größten Segen der Taxidermie: Mottenschutz, der den Präparator nicht umbringt«.
    Eines Morgens im zweiten Jahr ihrer neuen Passion fragte Tom Addie, ob er mit in den Schuppen (den er in »Beinhaus« umgetauft hatte) kommen dürfe, um ihr bei der Arbeit zuzusehen.
    Sie zog über ihrer Kaffeetasse eine Augenbraue hoch. »Bist du sicher?«, fragte sie. »Bisher kamst du mir, was das betrifft, etwas zart besaitet vor.«
    Er zuckte die Achseln. »Na ja, ich habe das fertige Produkt in den vergangenen dreißig Jahren fast jeden Tag in der Hand gehabt«, gab er im Hinblick auf die diversen ausgestopften Exemplare zurück, die zu jedem ornithologischen Labor dazugehörten. Notwendiges Übel, hätte Tom sie vielleicht genannt, obwohl er selbst sich nie veranlasst gesehen hatte, Burnhams Bestände zu ergänzen.
    »Wenn ich ohnmächtig werde, kannst du mir ja Terpentin unter die Nase halten«, sagte er, und sie lachte.
    Den ganzen Vormittag sah Tom still zu, wie sie den falschen Körper eines Rotschwanzbussards formte und zusammennähte, der in der Nähe im Wald erschossen worden war, vermutlich von einem gelangweilten Halbwüchsigen mit einem Jagdgewehr.
    »Besser einen Bussard als ein paar Kinder auf der Highschool, denke ich mal«, sagte der Besitzer einer Obstplantage, der den toten Vogel gefunden und ein paar Tage zuvor bei Addie und Tom abgeliefert hatte.

    Addie schauderte bei diesen Worten und war erleichtert, dass Scarlets Schuljahre vorbei waren. Und sie musste an die Fotos des nahe gelegenen Hawk Mountain aus den Dreißigerjahren denken, auf denen hunderte von toten Greifvögeln ordentlich in Reihen ausgelegt unter einer Gruppe lächelnder Jäger mit in die Luft gereckten Gewehren zu sehen waren. Nun, als Tom die Haut des Bussards untersuchte, während sie stopfte, wickelte und nähte, sagte sie: »Der hier war ziemlich schwierig. Ich habe noch nicht viel Erfahrung mit Einschusslöchern oder getrocknetem Blut.«
    »Du hast ihn ziemlich gut gereinigt, würde ich sagen.« Er wendete die trocknende Haut, um sie genauer zu inspizieren. Dann setzte er sich neben Addie und beobachtete sie eine Zeitlang schweigend. Schließlich meinte er: »Ich weiß gar nicht, warum mir das bisher nicht aufgefallen ist, aber du hast dich jetzt der Bildhauerei zugewandt. Du machst Skulpturen. «
    Aber natürlich. Das war es. Wie seltsam, dass auch Addie in all den Monaten nie auf den Gedanken gekommen war. Andererseits hatte Tom schon immer mehr Vertrauen in sie und ihre Arbeit gehabt als sie selbst. Vielleicht lag es an ihrem Mangel an Ausbildung. Oder an ihrem Gefühl, dass sie irgendwie versuchte, etwas anderes zu erreichen – die Lebensweise anderer Menschen zu verändern, möglicherweise –, egal, wie sehr sie auch scheitern mochte. Dennoch, wenn sie sich auch nicht überwinden konnte, das, was sie machte, als »Kunst« zu bezeichnen, konnte sie doch auch nie lange die Finger von dieser Arbeit lassen.
    Jetzt deutete Tom auf die zwei Möwen, die sie in merkwürdig gespreizter Haltung befestigt hatte. »Die da hast du gekreuzigt, stimmt’s?« Er trat näher, um sie genauer zu betrachten. »Zwei ›Unberührbare‹, aus der Unterschicht. Sie könnten vielleicht
rechts und links neben einem Wanderfalken hängen. Oder neben unserer armen Waldohreule.« Er lachte leise.
    Doch Addie starrte nur schweigend, mit offenem Mund die Möwen an. Wie hatte sie das übersehen können? Sie blickte auf den ausgestopften Bussard in ihren Händen hinab und entdeckte etwas, das sie noch Augenblicke zuvor nur gefühlt hatte: den Leib einer Mutter, weich und trauernd, nach innen gewölbt. Als sie ihn formte, hatte sie gespürt, wie sie ihn montieren würde: als Zentrum einer Art gefiederter Pietà. All diese katholische Bildhaftigkeit! Natürlich musste Tom das sofort auffallen. Für Addie

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