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Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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selbst allerdings war es das Echo von etwas anderem gewesen: den Skulpturen und Holzschnitten der Käthe Kollwitz.
    Ihre Finger, klebrig vom Pappmaschee und an den Kuppen blutend von den spitzen Drahtenden, kribbelten plötzlich. In jener Nacht begannen die Träume wieder. Und erneut wurde sie schneller von den Bildern überflutetet, als sie überhaupt Skizzen anfertigen konnte, um sie für die Arbeit der kommenden Monate aufzubewahren.
    Danach arbeitete Addie ohne Unterlass. Jeder tote Vogel löste so etwas wie Visionen in ihr aus. Selbst wenn sie immer noch nicht ganz sicher war, was sie da eigentlich machte, spielte das kaum eine Rolle. Wichtig war nur, es zu tun.
    Hätte Tom sie nicht gezwungen, im Herbst 1988 zu einer Nachuntersuchung zu gehen (indem er den Termin vereinbarte, sie aus dem Gartenschuppen ins Auto schleifte und sie hinfuhr), wer weiß, wie weit ihr Krebs unbemerkt fortgeschritten wäre? So jedenfalls befanden sich, als sie zu dritt, Tom, Scarlet und Addie, zwei Wochen später in der Praxis des Onkologen saßen, in Addies Brust bereits zwei Knoten. Und sie waren nicht gutartig. Auf Toms Bitte hin war Scarlet nach Hause gekommen, um sie zu Addies Termin beim Arzt
zu begleiten, der sie drängte, so schnell wie möglich mit einer Chemotherapie zu beginnen.
    Anfangs hatte Tom gezögert, Scarlet auf diese Weise einzubeziehen. Doch schließlich war er froh darüber. Es waren eindeutig Scarlets Tränen gewesen, die Addie überredeten, einer konventionellen Behandlung zuzustimmen. Scarlets Tränen, die sie retteten, davon war Tom überzeugt. Scarlet sagte oft, dass es beim ersten Mal Addies Entscheidung gewesen sei zu kämpfen. Doch er blieb davon überzeugt, dass Addie es für Scarlet getan hatte.
    Die Tränen ihrer Tochter hatte sie noch nie ertragen können. Beim ersten Wimmern holte sie Scarlet nachts zu sich und Tom ins Bett, erlaubte ihr, von der Schule zu Hause zu bleiben, wann immer ihre Gefühle von einem anderen Kind oder später von einem herzlosen Lehrer verletzt worden waren. Es war wirklich merkwürdig, wie stark es die harte, stählerne Addie berührte, ihre Tochter weinen zu sehen. Vielleicht, dachte Tom, lag es daran, dass Scarlet es, zumindest in Addies Anwesenheit, seit dem Alter von drei oder vier Jahren so selten getan hatte.
    »Wenn du so weitermachst, kommt sie später in der Welt nicht zurecht«, warnte er seine Frau manchmal. Mit wenig Nachdruck natürlich. Er konnte Scarlets Traurigkeit ebenfalls nicht aushalten. Toms Zärtlichkeit, wenn es um seine Tochter ging, war allerdings weniger verwunderlich. Bei Addie wirkte sie seltsamer, diese unerwartete Nachgiebigkeit, diese verborgene Fähigkeit zu Schmerz und Kummer bei einer Frau, deren eigene Tränen dem Anschein nach nie mit Kummer, sondern nur mit einer bodenlosen Wut zusammenhingen. Seltsam, aber so war es: Scarlets Tränen vermochten das. Scarlets Tränen trafen ihre Mutter tiefer als jedes versprühte Pestizid, jeder gefällte Wald, jede gefährdete Vogelart.

Sechzehn
    Die Leute schickten Addie die albernsten Dinge während des Jahrs ihrer Chemotherapie, das gefolgt wurde von einer Dosis Bestrahlung und, um sich bloß keinen der Schrecken, den die moderne Medizin zu bieten hatte, entgehen zu lassen, einer jahrelangen Hormontherapie, die wiederum ihre eigene Schneise der Verwüstung zog.
    Bücher über Visualisierung und »Geistheilung«. Endlose Schnittblumensträuße in abscheulichen Farben. Selbst eine gerade erschienene Aufnahme von Vogelstimmen auf zwei Compact Discs (obwohl sie und Tom natürlich keinen CD-Spieler besaßen). Darüber musste sogar Tom lachen (»Wir müssen nur das Fenster aufmachen, um die meisten davon zu hören«, sagte er, während er den Text auf der Hülle überflog). Wobei er sich dann aber doch vom College ein Gerät auslieh, sich beide CDs anhörte und am Ende die Aufnahmen für »gar nicht so übel« befand.
    Doch Addie konnte sie nicht ertragen. Selbst Vogelgesang, selbst Toms geliebter morgendlicher Chor, hatte in der letzten Zeit für sie einen bedrohlichen Beiklang angenommen, der etwas mit Konkurrenz um schrumpfende Territorien zu tun hatte, davon war sie inzwischen fest überzeugt. Eine Studie, die Addie gelesen hatte, stellte die These auf, der aufrührerische
Gesang sei nichts anderes als ein feindseliger Chor männlicher Vögel, die ihre aggressiven Absichten durch die gegenseitige Imitation ihres Gesangs zu verstehen gäben. So viel zu dem freundlichen, spielerischen Geplänkel, das

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