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Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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wusste, dass es zwecklos war, schaltete sich aber trotzdem ein, in der Hoffnung, sie wäre vernünftig genug, den Raum zu verlassen.
    »Komisch, dass ausgerechnet jemand, der findet, Kinder müssten die grausigsten Märchen voller Blut und Ekel hören, so hart über die Mütter urteilt«, sagte er.

    Das, stellte sich heraus, war genau der falsche Ansatz gewesen.
    »Aber natürlich gibt er den Müttern die Schuld«, schimpfte Addie voller Verachtung. »Das tun sie doch alle , immer .« Ungläubig schüttelte sie den Kopf. »Du lieber Himmel. Nazis. Wenigstens hatte er den Mut auszusprechen, was diese ganzen verdammten Dummköpfe in Wahrheit denken. Sie kümmern sich doch absolut nie darum, wo und wie ihre Patienten leben, welchen Einflüssen sie jeden Tag ausgesetzt sind: dem Müll, den sie in der Schule zu essen kriegen und den Partikeln, die sie dort einatmen, den radioaktiven Abfällen in ihrer Umwelt, dem absurd verseuchten Wasser, das sie trinken.«
    »Oder der genetischen Veranlagung, die sie geerbt haben«, sagte Tom ruhig, obwohl inzwischen klar war, dass niemand ihm zuhörte.
    Addie würdigte ihn keines Blickes. Sie redete weiter, zählte eine Liste von Übeln an ihren Fingern herunter. »Kohlerückstände aus der Stahlindustrie. Schadstoffe im Wasser. Blei und Arsen und Quecksilber in Produkten, mit denen Kinder täglich in Berührung kommen.«
    »Hör auf damit, Addie.« Dieses Mal war es Cora, die das kaum vernehmlich sagte. Nicht Tom.
    Doch Addie war zu sehr mit ihrer Aufzählung beschäftigt, um sie zu hören. »Farbe. Benzin. Meeresfrüchte. Zahnfüllungen, Desinfektionsmittel, Thermometer, Blutdruckmessgeräte. Leuchtstoffröhren.«
    »Ich sagte, hör auf damit! « Cora stand vom Sofa auf und lief quer durchs Wohnzimmer auf die Küchentür zu.
    Sie blieb stehen, drehte sich aber nicht um, als Addie ihr nachrief: »Cora, warte – hör mir doch zu! Siehst du denn nicht, dass Richards Problemen lauter Dinge zugrunde lagen,
die nicht in deiner Macht standen? Nicht du , um Himmels willen, nichts, was du getan oder nicht getan hast.«
    Ganz langsam drehte Cora sich zu ihr um, die Hände zu Fäusten geballt, die Augen unter der gerunzelten Stirn geschlossen. »Und siehst du nicht«, sagte sie mit rauer, erstickter Stimme, »siehst du nicht, dass du jedes Mal, wenn du das machst, wenn du mit deiner Forschung und deinen Statistiken anfängst, mit deiner Litanei über all die Gifte, denen meine Söhne täglich ausgesetzt sind, auch mir die Schuld gibst, Addie? Vielleicht mehr als alle anderen, machst du mich verantwortlich – dafür, wo wir gewohnt haben, was ich meiner Familie zu essen gegeben habe. Dafür, dass ich sie das Wasser trinken ließ. Mein Gott, dafür, dass ich ihre Temperatur gemessen und sie habe impfen lassen!«
    Sie hielt inne, kam zurück und ließ sich in einen Stuhl am Kamin sinken. »Ich weiß, dass du es gut meinst. Aber ich glaube nicht, dass ich mir das noch länger anhören kann. Ich will es einfach nicht mehr hören.«
    Noch nie hatte Tom seine Frau – seine hitzköpfige, rechtschaffen wütende, ungestüme Addie – so bestürzt gesehen. Geraume Zeit starrte sie nur zunächst Cora an, dann ins Feuer.
    Als sie endlich sprach, war ihre Stimme so leise und gebrochen, dass Tom sich fragte, ob Cora sie überhaupt hören konnte. »Ich gebe dir keine Schuld, Cora. Ehrlich nicht.« Und dann schwiegen sie alle, wie lange, wusste keiner. Und so fanden Scarlet und Bobby, als sie aus dem Einkaufszentrum zurückkamen, ihre Eltern vor.
    Sie sprachen nie mehr darüber. Doch dieser Vorfall hatte Addie verändert. Später, zurück in Burnham, als sie Die Geburt des Selbst in die Collegebücherei zurückbrachte, beklagte sie sich ihrer Freundin Candace, der Bibliothekarin, gegenüber bitterlich über Bettelheims Behandlung der Mütter.

    »Tja«, gab Candace zurück, »das ist nicht gerade überraschend. Wer macht nicht für alles seine Mutter verantwortlich? « Damit führte sie Addie in die Kunstabteilung, einen Bereich der Bibliothek, den Addie in ihrer eigenen Studentenzeit in- und auswendig gekannt, in dem sie sich aber seit Jahren praktisch nicht mehr aufgehalten hatte. Dort zog Candace Tagebuchblätter und Briefe von Käthe Kollwitz aus dem Regal. »Das hier ist ein gesundes Gegenmittel zu all der Mutterschelte. «
    Addie verschlang das Buch am selben Abend, und am nächsten Tag bat sie Mrs Hodges im Buchladen, zwei Exemplare zu bestellen. Eines davon schickte sie an Cora – in der heimlichen

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