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Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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anderes, als auszuruhen. Lesen schien sie nicht mehr zu interessieren, und selbst der Ausflug nach New York zu der Kollwitz-Ausstellung war offenbar nicht zu ihr durchgedrungen.
    Addie starrte Tom so lange mit ausdruckslosem Blick an, dass er sich schon fragte, ob sie seine Frage nicht gehört hatte. Sie saß in dem Schaukelstuhl am Ofen, in dem sie den Großteil ihrer Tage verbrachte, in Sweatshirt und Jeans gekleidet, die jetzt viel zu weit für sie waren. Haare hatte sie auch viele verloren, aber es war nicht die hagere Gestalt oder der beinahe kahle Kopf, dachte Tom, sondern ihre leeren Augen, die ihn eher an eine Leiche erinnerten als an die dickköpfige Frau, die er seit fünfundzwanzig Jahren liebte.
    Endlich wandte sie ihren Blick wieder nach draußen, dem
leichten Schneefall zu, der an diesem Morgen eingesetzt hatte und der das Vogelhäuschen bestäubte, das Tom vor dem Fenster aufgebaut hatte. Er hatte die vage (und magere) Hoffnung damit verbunden, dass Addie in den kommenden, schwierigen Wochen wenigstens vielleicht mal einen Skizzenblock zur Hand nehmen würde. Jetzt aber schien es, als bemerkte sie den Junko nicht einmal, der unter dem Häuschen verbissen nach Samen pickte, obwohl sie ihn direkt anstarrte.
    »Addie«, sagte er schließlich, »stört dich das Vogelhäuschen auch?« Er wusste, dass sie es in gewisser Hinsicht bestimmt verabscheute, da es ein verbindendes Element zum Kult der Freizeitornithologen darstellte – jenen, denen es zu mühsam war, in den Wald zu laufen, die erwarteten, dass die Vögel zu ihnen kamen. Doch da Addie zu schwach war, um den Weg zu ihrem alten Ansitz zu bewältigen, hatte er gleichzeitig gehofft, dass eine Futterstelle vor dem Fenster sie irgendwie trösten könnte.
    Nun drehte sie sich wieder zu ihm um, ihr Blick sah ein wenig klarer aus, dachte er. »Was?«, fragte sie und schüttelte den Kopf. »Entschuldige. Cider Cove – du hast mich nach Cider Cove gefragt. Wenn du möchtest, können wir da hinfahren, Tom. Wie du willst.« Dann stand sie langsam auf und lief Richtung Schlafzimmer. »Ich lege mich ein bisschen hin.«
    Es war Scarlet, die Tom zu erkennen half, was Addie brauchte. Nicht den Ansitz, auch kein Futterhäuschen. Scarlet, die sich durch einen geheimnisvollen alchemistischen Prozess, ausgelöst durch ihre Zeit auf Nantucket im vergangenen Sommer und den Schreibkurs, den sie im Herbst belegt hatte, als Addies Krankheit entdeckt wurde, in etwas verwandelt hatte, was Tom (in einem Telefonat mit Cora) nur als eine moderne Version ihrer Mutter in diesem Alter beschreiben konnte. Worauf Cora entgegnet hatte: »Hmmmm«, ergänzt von einem
Murmeln, dass Scarlet vielleicht etwas unabhängiger sei, als Addie es gewesen war. Tom hatte beschlossen, das nicht als Kritik an sich selbst zu verstehen.
    »Ich glaube, sie muss wieder in ihr Beinhaus«, sagte Scarlet während der Weihnachtsferien, als sie von der Kollwitz-Ausstellung in New York zurückkamen. Und so machte Tom sich an einem Wochenende nach den Feiertagen, als Scarlet wieder abgereist und der Schnee geschmolzen war, an die Arbeit, stellte einen kleinen Holzofen auf, setzte stabile Fenster ein und deponierte, ehe er Addie in ihren alten Daunenmantel wickelte und in den Schuppen brachte, auf dem neuen Arbeitstisch, den er gegen ihren klapprigen alten ausgetauscht hatte, zwei tote Krähen. Er hatte sie an diesem Morgen unter dem lächerlich überdimensionierten Fenster über dem Eingang zur neuesten Errungenschaft des Burnham College, dem Mildred-Schafer-Auditorium, gefunden.
    Später würde Addie Tom dafür danken, ihr durch diese sehr schlimme Zeit nach der ersten Chemotherapie geholfen und sie wieder zum Arbeiten gebracht zu haben. »Alles, was ich getan habe, ist in Zusammenarbeit mit Tom geschehen«, sagte sie in einem Interview. »Er ist seit fünfunddreißig Jahren mein Lehrer, seit ich zum ersten Mal seinen Hörsaal betreten habe.« Damals, als Eine Prosodie der Vögel in einer Millenniumsausgabe neu aufgelegt wurde, war es Addie, von der alle Welt markige Zitate über den katastrophalen Zustand des Planeten hören wollte. Zu Toms Belustigung machte sie sich Sorgen, es könnte ihn stören.
    Inzwischen an die Übelkeit und die Erschöpfung gewöhnt, tastete sich Addie im Winter 1989 Schritt für Schritt wieder an ihre Arbeit heran. Als der Frühling kam, malte sie sogar wieder ein wenig. Im Juni, nach einer weiteren Familiensitzung in der Onkologenpraxis, während der Scarlets Tränen erneut

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