Die Luft, die uns traegt
ihre
magische Wirkung entfalteten, willigte Addie widerstrebend in eine Bestrahlung ein. Und im August erhob sie keine Einwände – ja, sie schien kaum Notiz davon zu nehmen –, als der Onkologe sie drängte, dieser Behandlung wiederum eine Hormontherapie folgen zu lassen: die tägliche Tablette. Zu dem Zeitpunkt schien sie viel zu vertieft in ihre Arbeit, vielleicht sogar zu fest entschlossen weiterzuleben, um sich zu streiten.
Unterdessen las Scarlet, die für einen Monat zu Besuch war und zwischen Burnham und Cider Cove hin- und herpendelte, ihren Eltern den Entwurf eines Gedichts vor, das sie All der Schmutz und die Zerstörung nannte. Hier saß sie, ihre wunderschöne, erwachsene Tochter, deren lange Beine das ganze Sofa einnahmen und deren Haar locker von einer achtlos gebundenen Schleife im Nacken zusammengehalten wurde. Eine Dichterin. Sie bestand darauf, ihre Eltern hinter sich sitzen zu lassen, um sie nicht sehen zu können. »Ich kann nicht lesen, wenn ihr mich anschaut, sonst muss ich lachen«, sagte sie und errötete. Ihre Stimme erfüllte den Raum wie Honig, so golden und rein.
In dem Gedicht ging es um alles – von an einer namenlosen Küste flatternden Kormoranen und Reihern, die kaputten Flügel glitschig von einem in Regenbogenfarben schimmernden Ölfilm, über den Lebenskampf der Käthe Kollwitz bis hin zu dem im Verborgenen geführten Leben illegaler Einwanderer. »Ein Mysterium, was oder wen die Künstlerin liebt«, war eine Zeile, die Tom niemals vergessen würde.
Im Winter 1991, nachdem sie ihren Abschluss gemacht und nach Vermont in irgendeine Kommune auf einem alten Bauernhof außerhalb von Burlington gezogen war, hatte Scarlet die Arbeit an Krank vor Gewissheit begonnen, ihrer Blut-für-Öl-Elegie als Reaktion auf den Golfkrieg.
»Glaubt mir, da spielt sich mehr als großartige utopische Visionen
ab«, sagte Lou ein paar Wochen, nachdem Scarlet und ihr Freundestrupp nach einem Antikriegsmarsch in ihrem Haus kampiert hatten. Tagsüber protestierten sie, abends ließen sie sich das gute Essen und den Wein ihrer Gastgeberin schmecken. »Ja, sie wollen zurück zum einfachen Leben und sich Arbeit und Wohlstand und so weiter teilen«, fuhr sie fort. »Aber sie teilen mehr als das. Und ich könnte euch genau sagen, mit wem Scarlet ihres teilt, wenn es euch interessiert.«
»Das ist ihre Sache, Lou!«, entgegnete Addie darauf. Einen Monat zuvor war sie für geheilt erklärt worden, und endlich waren sie alle, Lou, Cora, Addie und Tom, zusammen in Cider Cove, um zu feiern. Addie arbeitete stetig an einigen neuen Stücken. »Assemblagen«, nannte sie diese Werke, von denen einige auch Gemälde enthielten, alte wie neue, und die alle echte Vögel enthielten, die Addie selbst ausgenommen und präpariert hatte. Viele der Tiere waren in oder unweit von neueren, hauptsächlich von Bert Schafer errichteten Wohnsiedlungen im südöstlichen Pennsylvania gefunden worden. Und die meisten davon waren höchstwahrscheinlich an Pestizidvergiftungen gestorben, ein Umstand, auf den Addie in ihrem Begleitkommentar zu den Assemblagen hinzuweisen vorhatte.
»Das muss Kevin sein, den du meinst, Lou«, sagte Tom. »Wir haben ihn schon kennengelernt. Scheint ein sehr netter Bursche zu sein.«
»Ist er besser als der Playboy aus Nantucket?«, fragte Cora. Obwohl sie die Antwort natürlich schon kannte. Scarlet hatte häufig mit ihr über beide junge Männer gesprochen.
»Auf jeden Fall mehr nach unserem Geschmack, ja«, gab Tom zurück, woraufhin Lou die Augen verdrehte.
»Wenn ihr mich fragt, könnte ein Playboy aus Nantucket ihr mehr bieten als ein liebenswürdiger Biobauernjunge aus Vermont«, sagte sie. »Ein wohlhabender Mäzen ist für eine
Künstlerin oder Dichterin nicht zu verachten.« Sie sah Addie durchdringend an, die nur über ihre Freundin lachte und den Kopf schüttelte.
Allerdings wirkte Addie zurückhaltend, was Kevin betraf, wie sie es auch schon bei Scarlets vorigem Freund Nate gewesen war. Tom hatte es sich schwerer vorgestellt, das mitanzusehen – dass seine Tochter sich zu einer jungen Frau entwickelte, und noch dazu eindeutig zu einer sinnlichen. Doch er hatte tatsächlich sowohl Nate als auch Kevin gemocht. Es machte ihn glücklich, dass seine Tochter Freude an diesen einnehmenden jungen Männern fand, die beide die Art von Studenten waren, die er gern unterrichtet hatte. Und er war unbestreitbar stolz darauf gewesen, Scarlet zu einer so schönen Frau heranwachsen zu sehen. Ihr langes
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