Die Luft, die uns traegt
es wüsste, hätte sie niemals so einen Vorschlag gemacht.
»Seit wann bist du denn so schlau und raffiniert?«, wagte er sich vor und räusperte sich.
Sie zuckte die Achseln, stand lächelnd auf und nahm ihm die Hundeleine aus der Hand. »Ich habe mich mit Cora unterhalten. Es war ihre Idee. Eine gute, findest du nicht?«
Eigentlich fand Tom das nicht, aus diversen Gründen. Addie würde da niemals mitmachen, dachte er, und Lou war ein Pulverfass. Wer würde schon mit ihr verhandeln wollen? Doch dann wurde ihm klar, dass es eigentlich im Endeffekt nur auf eins hinauslief: Er müsste Lou anrufen. Und das war auch der Hauptgrund, warum ihm der Vorschlag nicht zusagte.
»Warum fragt Cora sie nicht selbst?«, wollte er wissen und begriff im selben Moment, dass Cora natürlich Bescheid wissen musste. Beide Frauen hatten es ihr mit Sicherheit erzählt. Was hatte er denn geglaubt? Und nun hatte Cora sich vermutlich etwas ausgedacht, wie er und Lou die Fehler der Vergangenheit wiedergutmachen konnten.
»Sie meint, die Idee sollte besser von dir kommen«, sagte Scarlet und riss Jinx von der frischen Hinterlassenschaft eines anderen Hundes weg. »Vielleicht könntest du Lou hierher einladen, damit sie sich ansehen kann, was Addie in letzter Zeit gemacht hat. So in der Art.« Sie zwinkerte ihm zu. »Du weißt schon. Mach ihr Komplimente. Hofier sie ein bisschen!« Damit schüttelte sie die Leine, schnalzte mit der Zunge und rannte voraus, woraufhin Jinx widerstrebend in Trab fiel.
Er sah zu, wie sie mit dem Hund herumtollte, von Weitem sah sie aus wie damals mit dreizehn, nur Arme und Beine und eine unbändige Energie, immer ein paar Schritte voraus, auf welchem Pfad auch immer sie unterwegs waren. Tja, dachte er, jetzt müsste er diesen Anruf natürlich machen. Wie sollte er sich weigern?
In den kommenden Jahren fragte Tom sich durchaus, ob Lou Addies neue Werke tatsächlich so großartig fand, wie sie
behauptete. Das Objekt, das sie am Ende über Toms ehemaligen Studenten, den Galeristen, kaufte, war genau das, welches im Endeffekt den ganzen Ärger verursachen sollte – oder auch die ganze Aufregung, je nach Sichtweise; Tom konnte sich nie so recht entscheiden.
Es trug den Titel Nach Kollwitz und basierte auf der Radierung »Aus vielen Wunden blutest du, o Volk« aus dem Jahr 1896, die etwa wie ein Triptychon aufgebaut ist: In der Mitte sieht man eine klassische christliche Klageszene, ein Mann mit einem Schwert beugt sich über einen nackten, männlichen Leichnam; zu beiden Seiten sind nackte weibliche Gestalten nach Art einer Kreuzigung an Säulen gebunden.
In Addies Assemblage wurden die Frauenfiguren durch zwei ausgestopfte Ringschnabelmöwen ersetzt, die abstoßend gespreizt an zwei Minikreuze genagelt waren. Dazwischen befand sich ein Gemälde, und zwar ein großes, 1,2 Meter mal 1,5 Meter: ein Selbstporträt Addies in einem Krankenhausbett, kahl, ausgezehrt und nackt (die Ähnlichkeit war eindrucksvoll und auf unheimliche Weise prophetisch), einen Infusionsschlauch im Arm. Über ihrem Kopf gab ein Fenster den Blick auf die Welt draußen frei: Reihe um Reihe pompöser Einheitsvillen im Stil der Burnham Estates. In der Mitte des Fensters begrenzte ein Tor den, so weit das Auge reichte, mit Neubauten zugepflasterten Hang, und an dem Tor hing ein Schild – ein Foto des echten Schilds am Eingang zu den echten Burnham Estates. Letzten Endes sorgte Addies Ausstellung – deren Schwerpunkt neben einer aus einem verwundeten jungen Bussard und seiner Mutter bestehenden Pietà ebendieses Werk bildete – für etwas Aufsehen, einen Hauch von Empörung hier und dort, und auch ein wenig Bewunderung.
Doch die Reaktionen in New Hope 1992 waren nichts im Vergleich zu dem Ärger oder der Aufregung, die zwei Jahre
später folgen sollten, als Lou Addie drängte, sich für ein Stipendium der staatlichen Kulturstiftung National Endowment for the Arts zu bewerben (und ihre Beziehungen spielen ließ, um dafür zu sorgen, dass Addie auch eins bekam). Im Anschluss setzte sie sich dafür ein, einige von Addies Assemblagen – darunter Nach Kollwitz und Pietà – in einer bedeutenden Galerie in Washington unterzubringen. Und eines kalten, trostlosen Tags im Jahr 1994 lud Bert Schafer den konservativen republikanischen Senator Howard Swenson ein – einen frommen Katholiken aus dem westlichen Pennsylvania, dessen letzten Wahlkampf Schafer mit mehreren ansehnlichen Beträgen unterstützt hatte –, ihn in diese Ausstellung zu
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