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Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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braunes Haar wurde von einer Spur Rot erhellt, ihre frühere Schlaksigkeit hatte sich zu einer anmutigen, langbeinigen Statur gewandelt (warum sie so groß war, konnte sich keiner erklären), und sie trug ihre duftigen Röcke und Spitzenoberteile mit einer wundervollen Ungezwungenheit.
    Auch in ihre Freunde war Tom ganz vernarrt, diejenigen, die mit ihrer selbstbewussten neuen Dichterpersönlichkeit verknüpft waren: Kira und Gianna, die alte Joni-Mitchell-Songs in gehauchter Harmonie sangen, Kevin mit seiner Gitarre, der tollpatschige Mike, der ständig nach draußen zum Rauchen ging. (Glaubte er im Ernst, fragte sich Tom, dass sie nicht wussten, was er da rauchte?) Als Scarlet und einige ihrer Freunde auf dem Heimweg nach Vermont nach einer Demonstration in Washington für ein paar Tage zu Besuch gekommen waren, hatte er seine Fiddle aus dem Schrank geholt, und sie alle hatten bis spätnachts Bier getrunken und gesungen und getanzt. Dieser Besuch hatte sogar Toms Unterricht, der in den vergangenen Jahren so eintönig und reizlos geworden
war, neuen Schwung verliehen. Am Morgen nach Scarlets Abreise hatte er seine Fiddle mit in den Hörsaal genommen und seine Notizen im Büro gelassen – etwas, das er seit Jahren nicht mehr getan hatte.
    Doch eine Mutter – und Addie im Speziellen, nahm Tom an – hatte sicherlich ihre Gründe, den Männern im Leben ihrer Tochter nicht vollständig zu trauen. Es schmerzte ihn, darüber nachzudenken.
    Sprach sie mit Scarlet je über ihre Ängste oder Zweifel? Bemerkt hatte er nichts. Eigentlich hatte er den Eindruck, sie unterhielten sich fast überhaupt nicht. Und in all den Jahren, in denen Addie sich wieder an die Arbeit annäherte und Scarlet sich als Dichterin fand, kam es Tom ganz besonders seltsam vor, dass seine Frau und seine Tochter nie miteinander über ihre Arbeit sprachen. Ganz eindeutig beeinflussten, ja inspirierten sie sich gegenseitig – und beide nahmen wiederholt Bezug auf Käthe Kollwitz. Doch es war Tom, mit dem Scarlet in jenen Jahren über Lyrik redete, wenn sie spätabends am Ofen saßen und Scotch schlürften oder den Mond betrachteten und nach Mücken schlugen, während sie die Füße in den Kleine Creek baumeln ließen. Meistens scherzten und neckten sie einander, indem Tom auf der Überlegenheit des Vogelgesangs beharrte, während Scarlet die begrenzte emotionale Bandbreite des Sperlingsvogels im Allgemeinen bemängelte.
    Bei Scarlet, dachte er, wirkte Addie beinahe schüchtern. Dasselbe galt für Scarlet im Umgang mit ihrer Mutter.
    Ja, auch wenn allgemein das Verdienst, Addie durch ihre erste Krebserkrankung geholfen und zurück zu ihrer Arbeit gebracht zu haben, Tom zugeschrieben wurde, so war es doch in Wahrheit Scarlet gewesen, die die richtigen Einfälle hatte. Erst war es ihr Vorschlag, Addie wieder ins Beinhaus zu bringen, einen Ort, dessen Namen zu nennen, Scarlet sich noch wenige
Jahre zuvor nicht herabgelassen hätte. Dann, als sie über Weihnachten 1991 aus Vermont zu Besuch war (und sichtlich, aber wortkarg über die noch frische Trennung von Kevin trauerte), empfahl sie Tom, seinen ehemaligen Studenten anzurufen, den Besitzer der Galerie in New Hope, in der Addie acht Jahre vorher eine Ausstellung gehabt hatte.
    Anfangs sperrte er sich gegen die Idee. »Du meinst, sie soll diese neuen Sachen ausstellen, diese Assemblagen?« Diese Arbeiten waren so radikal anders, dachte Tom. Was würde der Galeriebesitzer, den Addies frühere Werke so begeistert hatten, davon halten? Und wenn er ablehnte, was für Auswirkungen könnte das auf Addie haben? »Ich weiß nicht, Scarlet. Ich bin mir nicht sicher, ob ihm die Sachen gefallen.«
    »Er wird aufhorchen, wenn es einen Sammler gibt, der schon Interesse signalisiert«, entgegnete Scarlet.
    Tom sah sie verblüfft an. »Tja, das könnte gut sein. Hättest du da jemanden im Sinn?«
    »Ruf doch Lou an«, sagte Scarlet da mit einer Beiläufigkeit, der er irgendwie misstraute. Was genau hatten sie und Lou im vergangenen Winter besprochen, als Scarlet und ihre Freunde bei ihr übernachtet hatten?
    Scarlet hockte sich hin, um etwas am Rande des Kanals zu begutachten. Sie und ihr Vater gingen mit dem alten Deutschen Schäferhund Jinx spazieren (Tom und Addies jüngster Neuzugang, ein Streuner, den sie drei Jahre zuvor in ihrem Komposthaufen wühlend gefunden hatten; am selben Morgen, als der Arzt neue Knoten in Addies Brust entdeckt hatte). Nein, befand Tom, als er sie beobachtete. Sie weiß es nicht. Wenn sie

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