Die Luna-Chroniken, Band 1: Wie Monde so silbern (German Edition)
überlebt. Sie sollte diejenige sein, die weggekarrt wurde. Sie sollte diejenige sein, die starb. Sie.
Und gleich wäre es so weit.
Sie versuchte zu sprechen. Wollte Peony sagen, dass sie gleich nachkommen würde. Dass sie nicht allein war. Aber dann piepste der Androide. »Bluttest beendet. Letumose-Erreger negativ. Aufforderung der Zielperson, zwanzig Meter Abstand zum infizierten Patienten zu halten.«
Cinder blinzelte. Sie war beides zugleich, erleichtert und erschrocken.
Sie war nicht krank. Musste nicht sterben.
Sie würde Peony nicht begleiten.
»Wir benachrichtigen Sie per Tele, wenn Linh Peony die nachfolgenden Stadien der Krankheit erreicht. Wir danken Ihnen für die Kooperation.«
Cinder schlang die Arme um sich, als sie sah, wie Peony sich hinlegte und weggebracht wurde. Sie hatte sich auf der Trage zusammengekauert wie ein kleines Kind.
6
Cinder schlich sich durch die laue Nacht davon, ihre Stiefel schlurften auf dem Asphalt, als seien ihre Beine beide aus Stahl. In der Stille klangen die gedämpften Geräusche wie ein Chor: Der Sand knirschte unter Ikos Laufflächen, die Laternen knisterten über ihnen, die magnetische Megaleitung summte unter der Straße. Bei jedem Schritt klapperte der Schraubenschlüssel in Cinders Wade. Aber all das verblasste neben dem Video, das vor ihrem inneren Auge abgespielt wurde.
Manchmal machte ihre Schnittstelle das: Sie zeichnete Augenblicke auf, die mit starken Gefühlen verbunden waren, und spielte sie ihr immer wieder vor. Wie ein Déjà-vu; oder so, wie die letzten Worte einer Unterhaltung nachhallen, obwohl längst Stille eingetreten ist. Normalerweise konnte sie die Erinnerungen stoppen, bevor sie sie verrückt machten, aber heute Abend hatte sie dafür nicht mehr genug Kraft.
Der schwarze Fleck auf Peonys Haut. Ihr Schrei. Die Spritze des Medidroiden, die Blut aus Cinders Ellenbeuge zog. Peony, klein und zitternd auf der Trage. Schon im Sterben.
Sie blieb stehen und hielt sich die Hand auf den Bauch, als Übelkeit in ihr hochstieg. Iko wartete ein paar Schritte vor ihr und erleuchtete Cinders verzweifeltes Gesicht.
»Was ist mit dir?«
Der Lichtkegel wanderte an Cinder hoch und runter. Sie war sich sicher, dass Iko nach runden Flecken suchte, die wie Blutergüsse aussahen. Obwohl der Medidroide gesagt hatte, dass sie nicht infiziert sei.
Statt einer Antwort zog Cinder die Handschuhe aus und stopfte sie in die Gesäßtasche. Der Schwächeanfall ging vorüber. Sie lehnte sich an einen Laternenpfahl und sog die feuchte Nachtluft ein. Sie hatten es jetzt fast bis nach Hause geschafft. Der Wohnblock des Phoenix Towers stand an der nächsten Ecke. Nur das oberste Stockwerk wurde vom schwachen Schein der Mondsichel erhellt, der Rest des Gebäudes lag im Dunkeln. Die Fenster waren fast alle schwarz, nur in ein paar flackerten Netzschirme blau-weiß. Cinder zählte die Etagen und sah zu den Küchenfenstern und denen von Adris Schlafzimmer hoch.
Irgendwo in der Wohnung war noch Licht, wenn auch gedämpft. Adri war keine Nachteule, aber vielleicht hatte sie schon gemerkt, dass Peony noch draußen war. Vielleicht war Pearl noch wach und arbeitete an einem Schulprojekt oder chattete bis spät in die Nacht mit ihren Freundinnen.
Wahrscheinlich war es besser so. Sie wollte sie nicht erst wecken müssen.
»Was soll ich ihnen sagen?«
Ikos Sensor richtete sich kurz auf das Wohngebäude, dann erhellte er den herumliegenden Abfall auf dem Bürgersteig vor ihnen.
Cinder wischte sich die schwitzende Handfläche an der Hose ab und zwang sich weiterzugehen. Sosehr sie sich auch anstrengte, ihr fielen einfach nicht die passenden Worte ein. Erklärungen, Entschuldigungen. Wie sagt man einer Frau, dass ihre Tochter im Sterben liegt?
Sie hielt ihre ID an den Scanner und betrat das Gebäude diesmal durch den Haupteingang. In der grauen Eingangshalle hing nur ein Netscreen mit Bekanntmachungen: Erhöhung der Wartungskosten, Unterschriftensammlung für einen neuen ID-Scanner an der Haustür. Eine Katze war entlaufen. Dann die laut klirrende Mechanik des alten Aufzugs. Bis auf den Mann vor der Nummer 1807, der auf seiner Türschwelle schnarchte, war der Flur leer. Cinder musste ihm den lang ausgestreckten Arm auf den Bauch legen, damit Iko ihn nicht zerquetschte. Sein schwerer Atem, der süßlich nach Reiswein roch, schlug ihr entgegen.
Mit klopfendem Herzen zögerte sie vor Wohnung 1820. Sie konnte sich nicht erinnern, wann das Video von Peony aufgehört hatte, sich in
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