Die Luna-Chroniken, Band 2: Wie Blut so rot (German Edition)
weißt nichts über sie! Du vergötterst sie, seit du vier bist, und deswegen bist du blind für die Wahrheit. Sie hat uns beide verraten, Scarlet!«
Das Blut pochte ihr in den Schläfen. Scarlet zeigte auf die Tür. »Raus! Runter von meinem Hof. Und komm nie wieder! Ich will dich hier nie wieder sehen.«
Er wurde blass. Die Ränder unter seinen Augen wurden dunkel wie blaue Flecke. Langsam richtete er sich auf. »Du lässt mich auch im Stich? Meine eigene Tochter und meine eigene Mutter – bin ich euch so wenig wert?«
»Du hast uns doch im Stich gelassen!«
Scarlet bemerkte, dass sie in den letzten fünf Jahren, in denen sie ihn nicht mehr gesehen hatte, so groß wie ihr Vater geworden war. Sie standen sich auf Augenhöhe gegenüber. Sie brannte vor Wut, aber sein Gesichtsausdruck war schwer zu deuten, wahrscheinlich tat es ihm leid.
»Auf Wiedersehen, Luc.«
Er malmte mit den Zähnen. »Die kommen mich holen, Scarlet. Und diesmal bist du schuld.«
»Du wagst es? Du bist doch derjenige, der hier verwanzt angekommen ist, der gewillt war, mich zu verraten.«
Er hielt ihrem Blick eine ganze Weile stand, als wartete er darauf, dass sie ihre Meinung änderte. Ihn in ihr Haus bat, in ihr Leben. Aber in Scarlets Ohren klang noch das Knirschen des Senders nach. Sie dachte an seine Brandwunden und wusste, dass er sie der Folter überlassen würde, wenn er dadurch seine eigene Haut retten konnte.
Schließlich senkte er den Blick. Ohne sie anzusehen, ohne Wolf anzusehen, schlurfte er durch die herumliegenden Scherben aus dem Hangar.
Scarlet ließ die Fäuste sinken. Sie musste noch etwas warten. Erst würde er ins Haus gehen und seine Schuhe holen. Außerdem würde er wahrscheinlich die Küche nach Essen absuchen, bevor er ging – oder nach irgendwelchen vergessenen Schnapsflaschen. Sie wollte ihm auf keinen Fall noch einmal über den Weg laufen, bevor er für immer aus ihrem Leben verschwand.
Dieser Feigling. Dieser Verräter.
»Ich helfe dir«, sagte Wolf sanft.
Sie ließ den Blick über das Chaos schweifen. Sie würde hier wochenlang aufräumen müssen. »Ich brauche keine Hilfe von dir.«
»Ich meinte, ich will dir helfen, deine Großmutter zu finden.« Wolf zog die Schultern hoch, als sei er selbst überrascht von seinem Angebot.
Sie brauchte unendlich lange, um von der Empörung über ihren charakterlosen Vater zu der ungeheuren Bedeutung hinter Wolfs Worten zu kommen. Sie sah ihn atemlos von unten an. Vor ihrem inneren Auge standen seine Worte in einer Sprechblase, die jederzeit davonschweben konnte. »Ehrlich?«
Er machte eine ruckhafte Bewegung, die man für ein Nicken halten konnte. »Die Wölfe haben ihr Hauptquartier in Paris. Wahrscheinlich halten sie sie da fest.«
Paris. Endlich ein Hinweis. Es klang wie ein Versprechen.
Sie starrte kurz auf ihr Schiff und das zerschmetterte Fenster. Wieder wallte die Wut in ihr auf, aber dafür war jetzt keine Zeit mehr. Nicht, wenn sich seit zwei Wochen die erste Spur auftat.
»Paris«, murmelte sie. »Wir können den Zug von Toulouse nehmen. Er braucht … wie lange? Acht Stunden?« Viel lieber hätte sie das Schiff genommen, aber selbst die grauenhaft langsame Schwebebahn wäre schneller, als zu warten, bis die Heckscheibe repariert war. »Jemand muss sich um den Hof kümmern, wenn ich weg bin. Vielleicht kann Emilie das nach ihrer Schicht machen. Ich schreibe ihr eine Tele, packe ein paar Klamotten und …«
»Warte mal, Scarlet. Wir können nicht Hals über Kopf losrennen. Wir müssen uns das alles erst mal überlegen.«
»Wie meinst du das, ›Hals über Kopf losrennen‹ …? Die haben sie schon länger als zwei Wochen in ihrer Gewalt. Das kann man ja wohl kaum losrennen nennen.«
Wolfs Blick verdunkelte sich und Scarlet bemerkte zum ersten Mal, dass ihm unbehaglich war.
»Komm schon«, sagte sie und befeuchtete die Lippen, »uns bleiben immer noch acht Stunden im Zug, um uns was auszudenken. Ich kann hier keine Sekunde länger bleiben.«
»Und wenn dein Vater doch Recht hat?«, fragte er gespannt. »Wenn sie hier irgendwo etwas versteckt hat? Wenn sie herkommen, um danach zu suchen?«
Sie schüttelte heftig den Kopf. »Sie können hier alles auf den Kopf stellen, aber sie werden nichts finden. Mein Vater täuscht sich. Grand-mère und ich haben keine Geheimnisse voreinander.«
14
»Eure Majestät.«
Kai wandte sich vom Fenster ab, aus dem er den halben Vormittag hinausgestarrt hatte, während er dabei den Nachrichtensprechern und
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