Die Luna-Chroniken, Band 2: Wie Blut so rot (German Edition)
nicht.«
»Doch«, sagte er und übertönte einen laut plärrenden synthetischen Musikclip aus einer Plakatwand links von ihnen. »Doch, allerdings brauchst du den.«
Scarlet schoss um ihn herum und baute sich vor ihm auf, so dass er sie um Haaresbreite umgerempelt hätte.
»Nein«, sagte sie. »Ich muss wissen, dass ich keine Verantwortung für dich habe. Also hör auf, dich so albern zu benehmen, und mach, dass du wegkommst!«
Er blickte über ihren Kopf hinweg auf einen Punkt in der Ferne. Scarlet erstarrte. Hatte er weitere Rudelmitglieder ausgemacht? Sie schluckte und sah zu dem Mann vor dem Café hinüber, der sich am Ohr kratzte und sie amüsiert beobachtete.
»Albern ist nicht, dass ich dich zu beschützen versuche«, sagte Wolf und sah ihr in die Augen. »Sondern dass ich fast glaube, es könnte tatsächlich etwas ändern.«
Dann schüttelte er ihre Hand ab. Ihr klapperten die Zähne, sie wusste genau, dass sie noch die Wahl hatte. Noch konnte sie mit ihm weglaufen, raus aus der Stadt und nie mehr wiederkommen. Sie konnte die Suche nach Grand-mère aufgeben und ihm so vielleicht das Leben retten.
Aber in Wirklichkeit hatte sie keine Wahl. Sie kannte ihn ja kaum. Auch wenn ihr das Herz schwer wurde, nach all dem, was zwischen ihnen gewesen war. Sie würde nicht weiterleben können, wenn sie ihre Großmutter jetzt im Stich ließe, jetzt, wo sie ihr so nah war.
Sie drehte sich noch einmal um, bevor sie um die Ecke gingen. Der Mann vor dem Café war verschwunden.
Eine Querstraße weiter stießen sie plötzlich auf die Folgen des Vierten Weltkriegs. Brandspuren und zerschossene Fassaden einer kriegsgebeutelten Stadt. Es war offensichtlich nicht genügend alte Bausubstanz erhalten geblieben, als dass die Denkmalschützer Interesse an dem Viertel gehabt hätten – die Zerstörungen waren zu umfassend für eine Rekonstruktion. Da die Regierung die historischen Relikte aber auch nicht dem Boden gleichmachen konnte, hatte man die Gegend sich selbst überlassen. Auch wenn sie so nah an den erhaltenen Vierteln lag, schienen sie Welten zu trennen.
Scarlet stockte der Atem. Sie erkannte das riesige Gebäude auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf den ersten Blick, obwohl viele Rundfenster geborsten und die meisten Statuen von Männern in altmodischen Kleidern stark beschädigt oder aus ihren Nischen gefallen waren. Das war der Louvre, eine der wenigen Sehenswürdigkeiten, die sie mit ihrem Vater besichtigt hatte. Der trutzige Bau war auf der Westseite so zerstört, dass man ihn schon damals wegen der Einsturzgefahr nicht mehr betreten konnte. Sie hatte neben ihrem Vater auf dem Bürgersteig gestanden und er hatte ihr viel von den unschätzbaren Kunstwerken erzählt, die von den Bomben vernichtet oder zu Kriegsbeute geworden waren.
Viele von ihnen waren noch nicht wiederaufgetaucht, obwohl seitdem schon mehr als ein Jahrhundert vergangen war.
Es war eine der wenigen schönen Erinnerungen an ihren Vater, die erst jetzt wieder in ihr hochkam.
»Scarlet.«
Sie wandte den Kopf.
»Hier geht’s lang.« Wolf deutete auf eine Seitenstraße.
Obwohl alles wie unter einer Schmutzschicht zu liegen schien, war doch deutlich zu erkennen, dass die Gegend nicht völlig verlassen war. Ein kleines Motel warb mit dem Schild: »Verbringen Sie eine Nacht mit den Geistern gefallener Soldaten«. In einem Secondhandladen standen Schaufensterpuppen ohne Köpfe mit kreischend bunten Kleidern.
Wolf blieb vor einem zugenagelten Metro-Eingang stehen. Ein Schild wies darauf hin, dass sich die nächste Station am Boulevard des Italiens befinde.
»Bist du bereit?«
Er blickte unverwandt auf ein prachtvolles Gebäude, das vor ihnen aufragte. Engel und Cherubim bewachten die hohen Türflügel am Eingang.
»Was ist das für ein Gebäude?«
»Ursprünglich war es ein Opernhaus. Im Krieg wurde es zu einem Munitionsdepot umfunktioniert und irgendwann hat man hier Gefangene einquartiert. Als niemand mehr Verwendung dafür hatte, haben wir es übernommen.«
Als er »wir« sagte, runzelte Scarlet die Stirn. »Scheint mir etwas auffällig für eine Straßengang zu sein.«
»Würdest du in diesem Gebäude etwas Schreckliches vermuten?«
Als sie keine Antwort gab, trat er einen Schritt zurück, musterte sie und fragte noch einmal: »Bist du bereit?«
Sie betrachtete die Details der Fassade: steinerne Figuren mit ernsten und schönen Gesichtern, Männerköpfe, die auf sie herabstarrten, ein langer Balkon mit brüchigem Geländer.
Weitere Kostenlose Bücher