Die Luna-Chroniken, Band 2: Wie Blut so rot (German Edition)
Dann biss sie die Zähne zusammen, überquerte die Straße und stieg die Treppe hinauf. Vorbei an den stillen Engeln unter die überdachte Säulenhalle, die die ganze Breite des Gebäudes einnahm.
»Ich bin bereit«, sagte sie mit Blick auf die beschmierten Türen.
»Scarlet.«
Sie drehte sich um und sah ihm – überrascht von seinem energischen Ton – in die Augen.
»Es tut mir leid.«
Er drückte sich an ihr vorbei, darauf bedacht, sie nicht zu berühren.
Sie war gewarnt. Ihr Mund war staubtrocken, als Wolf die hohe Tür aufstieß und vor ihr das dunkle Opernhaus betrat.
27
Hinter ihnen fiel die Tür dumpf ins Schloss. Sie standen in dem gewaltigen Foyer des Opernhauses. Abgesehen von flackerndem Kerzenlicht hinter dem Bogengewölbe war es stockfinster. Stille, Staub und Trümmer von zerborstenem Marmor. Der Staub legte sich auf Scarlets Lunge, doch sie kämpfte gegen den Hustenreiz und ging auf das Licht zu. In dem hohen, menschenleeren Foyer hallten ihre Schritte erschreckend laut wider.
Eine von zwei Frauenstatuen, die die Prunktreppe flankierten und in wallenden Gewändern von ihren Podesten herabsahen, hielt eine rußende Fackel in ihrer hochgereckten Hand, die das Foyer in ein gespenstisches orangefarbenes Licht tauchte. Die Balustrade der rot-weiß marmorierten Treppe war an vielen Stellen weggebrochen. Der zweiten Statue fehlten der Kopf und der Arm, der einst den anderen Kandelaber gehalten haben musste.
In der Mitte der Halle trat Scarlet plötzlich in eine große Pfütze. Sie legte den Kopf in den Nacken und sah an drei Stockwerken mit Balkonen zur Decke hinauf. Sie war kunstvoll bemalt, soweit Scarlet das im Halbdunkel ausmachen konnte. In der Mitte musste sich irgendwann einmal ein rechteckiges Fenster befunden haben.
Scarlet kreuzte die Arme und wandte sich zu Wolf um, der zwischen den Säulen zurückgeblieben war.
»Vielleicht schlafen sie ja«, sagte sie und versuchte, abgebrüht zu wirken.
Wolf löste sich aus den Schatten und pirschte sich an die Treppe heran. Er wirkte merkwürdig starr wie die Statuen, die auf ihn herabblickten.
Scarlet versuchte, im Dunklen hinter den Balustraden etwas zu entdecken, aber sie bemerkte keine Anzeichen von Leben, keine Bewegung, sah keinen Müll, roch kein Essen. Keine Stimmen, keine Netscreens. Durch die massive Tür drangen keine Geräusche von draußen herein.
Wütend biss sie die Zähne zusammen. Es war ein widerwärtiges Gefühl, wie eine Maus in der Falle zu sitzen. Leichte Beute. Sie stampfte an Wolf vorbei zur Treppe.
»Hallo?«, brüllte sie mit zurückgelegtem Kopf. »Ihr habt Besuch!«
Ihre Worte hallten kalt und trotzig von den Wänden wider.
Kein Geräusch. Kein Alarm.
Und inmitten der Stille ein Klingelton, der von den Marmorsäulen zurückgeworfen wurde, und Scarlet erschrak, obwohl er durch die Tasche gedämpft wurde.
Mit klopfendem Herzen zerrte sie den Port heraus. Die Computerstimme kündigte bereits eine Tele an: »Nachricht für Mademoiselle Scarlet Benoit vom Hôpital Joseph Ducuing in Toulouse.«
Scarlet war verunsichert. Ein Krankenhaus?
Mit zitternden Händen rief sie die Tele auf.
30. Aug. 126 D.Z.
Hiermit teilen wir Scarlet Benoit, wohnhaft in Rieux, Europäische Föderation, mit, dass Luc Arman Benoit, wohnhaft in Paris, Europäische Föderation, am 30. Aug. 126 um 5:09 Uhr durch den diensthabenden Allgemeinmediziner ID #58729 für tot erklärt worden ist. Todesursache: Alkoholvergiftung.
Bitte antworten Sie innerhalb der nächsten 24 Std., wenn Sie die Durchführung einer Autopsie wünschen. Kosten: 4500 Univs.
Unser Beileid
Das Personal des Krankenhauses Joseph Ducuing, Toulouse
Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Diese Nachricht ergab einfach keinen Sinn. Sie sah ihn vor sich: irr vor Wut, verängstigt, gepeinigt. Und wie sie ihn angebrüllt hatte, dass sie ihn nie mehr wiedersehen wollte.
Wie konnte er vierundzwanzig Stunden später tot sein? Sie hätte doch eine Tele erhalten müssen, als er ins Krankenhaus eingeliefert worden war. Hätte man ihr nicht früher Bescheid geben müssen?
Sie schwankte und sah Wolf von unten an. »Papa ist tot«, flüsterte sie in die Leere der bombastischen Halle. »Alkoholvergiftung.«
Er schob das Kinn vor. »Sind die sicher?«
Erst allmählich drang sein Verdacht durch ihre Benommenheit. »Glaubst du, die Tele könnte ein Versehen sein?«
Er sah sie mitfühlend an. »Nein, Scarlet. Aber er war größeren Gefahren ausgesetzt als seiner Schwäche fürs
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