Die Luna-Chroniken, Band 2: Wie Blut so rot (German Edition)
stellte Scarlet fest, dass sie am Gare de Lyon waren, der von Läden und Büros umgeben war. Obwohl Wolf versuchte, es vor ihr zu verbergen, bemerkte Scarlet, dass er Witterung aufnahm.
Sie atmete nur die Gerüche der Stadt ein: Metall und Asphalt, frisch gebackenes Brot aus einer noch geschlossenen Boulangerie an der Ecke.
Wolf wandte sich nach Nordwesten.
Imposante Beaux-Arts-Gebäude aus dem Dritten Zeitalter säumten die Straße. Blumenkästen schmückten stuckverzierte Fenster. In der Ferne stand ein verzierter Turm, mit einer erleuchteten Uhr mit römischem Zifferblatt. Auf der Digitaluhr darunter stand 4:26 neben einer Reklame für das neueste Modell einer Haushalts-Androidin.
»Wie weit ist es?«, fragte Scarlet.
»Nicht weit. Wir gehen zu Fuß.«
An einem Kreisverkehr bogen sie nach links. Wolf lief ihr vornübergebeugt einen halben Schritt voraus, als müsse er sich wappnen. Scarlet sah von seiner bandagierten Wunde, die er nicht mehr zu spüren schien, auf seine zuckenden Finger. Sie wollte ihn berühren, aber es ging nicht. Sie vergrub die Hände in den Taschen des Kapuzenpullis.
Zwischen ihnen hatte sich ein Abgrund aufgetan, in dem alles verschwunden war, was im Zug vorgefallen war. Und jetzt waren sie fast da – fast bei ihrer Großmutter, fast bei diesen Loyalen Soldaten vom Orden der Wölfe.
Vielleicht führte er sie in den Tod.
Vielleicht ging er auf seinen zu.
Sie hob das Kinn. Sie würde jetzt nicht den Mut verlieren. Was zählte, war einzig die Rettung ihrer Großmutter. Und die war nah. Sehr nah.
Die uralten Wohnhäuser waren näher gerückt. Hier und da regte sich etwas: eine Katze, die sich im Schaufenster eines Hutladens putzte, ein Mann, der vor einem Hotel in einen wartenden Hover stieg. Auf einem Netscreen wurde für ein Shampoo geworben, das die Haarfarbe je nach Stimmung färbte.
Sie sehnte sich nach dem Bauernhof. Der war ihr vertraut. Der Hof, ihre Großmutter und die wöchentlichen Lieferungen. Und jetzt auch Wolf. Das war alles, was sie wollte.
Wolf ließ die Schultern hängen und beschleunigte seine Schritte. Mit zusammengebissenen Zähnen griff Scarlet nach seinem Handgelenk.
»Ich kann dich da nicht mit reinziehen«, sagte sie aufgebrachter als beabsichtigt. »Beschreib mir einfach, wo es ist, dann gehe ich alleine hin. Sag mir, womit ich es zu tun habe, und dann denke ich mir was aus. Aber ich kann dich nicht mitnehmen.«
Er starrte sie von oben herab an, doch sosehr sie sich auch bemühte, Zärtlichkeit in seinen überraschend grünen Augen wahrzunehmen, oder Wärme oder Verzweiflung, alles, was im Zug so offensichtlich gewesen war – all das war nun von kalter Entschlossenheit verdrängt worden. Er machte sich los.
»Siehst du den Mann da sitzen, vor dem geschlossenen Café auf der anderen Straßenseite?«
Sie betrachtete ihn. Einen Fuß lässig über das Knie gelegt, ein Arm hinter der Lehne herabbaumelnd, starrte er sie unverhohlen an. Als Scarlet ihm in die Augen sah, zwinkerte er ihr zu.
Kälte kroch ihr die Arme hoch.
»Rudelmitglied«, sagte Wolf. »Im Magnetbahnhof war auch einer. Und …« Er reckte den Kopf. »Wenn mich der Gestank nicht täuscht, stoßen wir auf einen weiteren, sowie wir um die Ecke biegen.«
Ihr Herz hämmerte plötzlich. »Woher wissen sie denn, dass wir kommen?«
»Ich vermute, dass sie uns erwartet haben. Wahrscheinlich haben sie deine ID geortet.«
Das machen die Leute nun mal, wenn sie nicht aufgespürt werden wollen – sie schneiden sich die ID-Chips heraus.
»Oder deine«, murmelte sie. »Wenn sie ein ID -Ortungsgerät haben, haben sie dich vielleicht die ganze Zeit überwacht.«
»Vielleicht«, sagte er gleichgültig und ihr wurde klar, dass ihm der Gedanke nicht neu war. Hatte er das für möglich gehalten? Hatte Ran sie deswegen aufgespürt?
»Komm, wir gehen hin und finden heraus, was sie wollen.« Wolf wandte sich ab und sie hatte Mühe, Schritt mit ihm zu halten.
»Das sind doch nur drei. Die kannst du doch besiegen. Du hast doch gesagt …« Sie zögerte. Wolf hatte ihr erzählt, dass er einen Kampf gegen sechs Wölfe gewinnen konnte. Aber wann waren diese wilden Tiere gleichbedeutend mit diesen Männern geworden, diesen Loyalen Soldaten vom Orden der Wölfe?
»Du kannst jetzt noch abhauen. Vielleicht klappt es«, beendete sie ihren Satz.
»Ich habe dir versprochen, dich zu beschützen, und dabei bleibt es. Es ist sinnlos, weiter darüber zu diskutieren.«
»Ich brauche deinen Schutz
Weitere Kostenlose Bücher