Die Lust des Bösen
»Was sehen wir hier?«
»Düster und mystisch«, begann Lea ihre Überlegungen, »sind die beiden Orte in jedem Fall, der eine vermittelt etwas Endgültiges, er steht symbolisch für den Untergang, der andere symbolisiert eine Festung, die, so wie sie einst konzipiert war, nahezu unzerstörbar war. Beide haben etwas mit dem Führer zu tun, der besonders in der Wolfsschanze viel Zeit verbracht hat. Außer Frage steht wohl, dass der Täter uns mit der Auswahl der Fundorte etwas vermitteln will. Er hätte die Frauen ja ansonsten auch dort, wo er sie getötet hat, zurücklassen können. Warum also hat er sich die Arbeit gemacht, die Leichen an diesen symbolträchtigen Plätzen abzulegen und zu positionieren? Und was bedeuten die einzelnen Elemente, die er für seine Inszenierung gewählt hat? Warum sind es ausgerechnet achtzehn rote Rosenblätter, und warum hat er ihnen das Gehirn und das Herz entnommen?«
Bei dieser letzten Frage klang sie fast ein wenig verzweifelt, und Steiner spürte es.
Mit einem einfachen »Stopp« unterbrach er ihren Gedankenfluss.
»Sie haben in Ihren Fragen ja schon die wesentlichen Elemente aufgezählt, auf die es bei unserer Betrachtung ankommen wird. Aber ich glaube, wir sollten zunächst bei den Orten bleiben. Was sagen sie uns über den Täter?«
Der Wissenschaftler stand auf und kam nach vorne auf das Podium, ganz dicht an sie heran.
»Warum wählen Menschen jene Lokalitäten aus und nicht andere? Warum gehen Sie beispielsweise lieber ins ›Café Einstein‹ als ins ›Café Roseneck‹?«
»Nun, es sind die Atmosphäre, die Menschen, die Bedienung und natürlich vor allem auch der leckere Kuchen«, entgegnete sie und lächelte. »Aber was hat ein Café mit unserem Mordfall zu tun?«
»Ganz einfach«, meinte der Professor, »auch der Täter hat Prioritäten, genau wie wir, und sie verraten immer etwas über ihn. Er verrät uns, ob er eher der Mohn- oder eher der Apfeltyp ist«, scherzte er.
Lea überlegte. Okay, vermutlich hatte sich der Täter Orte ausgesucht, an denen er sich wohlfühlte, weil die Atmosphäre ihn inspirierte.
»Vielleicht mag er es, zurückversetzt zu werden in die Zeit des Nationalsozialismus, in eine düstere Episode deutscher Geschichte, in der die Diktatur und die Gewalt regierten?«
»Gut!« Steiner nickte zufrieden.
»Nehmen wir weiter an, er fühlt sich tief in den Bunkern unter der Erde sicher und geborgen, nehmen wir an, er will sich zurückversetzen in die Zeit des Dritten Reichs und seinem Führer ganz nahe sein. Warum könnte er diese jungen Frauen gewählt haben für seine Inszenierung?«
»Sie waren tatsächlich Opfergaben«, sagte Lea mehr zu sich selbst, denn diese Tatsache war ihr längst klar.
Aber Steiner nahm es dennoch begeistert auf. »Genau das ist der Punkt: Der Täter hat die jungen Frauen für seinen Führer geopfert. Sie waren blond, blauäugig, und beide waren Studentinnen der Psychologie.«
»Was genau hat das zu bedeuten?«, fragte Lea.
»Überlegen Sie mal, Sie sind doch Hitler-Expertin und haben sich einige Jahre mit seiner Persönlichkeit auseinandergesetzt! Gab es etwas, das Hitler verabscheute?«
»Ja«, bestätigte Lea, »er verabscheute die Psychologie im Allgemeinen und Freud im Besonderen, sie waren ihm nicht geheuer – und überhaupt mochte er keine Akademiker. Ihm waren Menschen lieber, die es genau wie er im Selbststudium und aus eigenem Antrieb zu etwas gebracht hatten. Und noch etwas: die sogenannte Rassenfrage! Beide junge Frauen waren jüdischer Abstammung.«
»Prima, da kommen wir doch der Sache schon näher«, freute sich ihr Mentor und trat noch etwas dichter an sie heran, sodass sie seinen Atem spüren konnte.
Er mochte dieses Spiel mit dem Feuer, und er spürte genau, wie es sie nervös machte, ihn so nahe bei sich zu wissen, und deshalb befreite sie sich aus seiner mentalen Umklammerung und trat etwas aus dem »innigen Kreis« heraus, auf neutrales Terrain.
»Aber was wissen wir über den Täter, außer dass er Hitler verehrt und sich in Bunkern wohlfühlt?«, fragte Steiner und sah sie mit seinem durchdringenden, fragenden Blick an.
Die junge Profilerin war noch immer sichtlich nervös und wandte sich Hilfe suchend zur Flipchart, einem sachlichen Bereich, in dem sie sich sicher fühlte. Gefühle verursachten bekanntlich nur Chaos in ihrer Seele und hinterließen Verletzungen, und davon hatte sie in der Vergangenheit schon mehr als genug gehabt.
»Also«, erklärte sie entschlossen und sachlich,
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