Die Lust des Bösen
Lärm in der Fankurve auf einmal zu einem Pfeifkonzert anschwoll.
»Hertha, Hertha«-Sprechchöre und die Vereinshymne »Ha ho he, Hertha BSC« hatten alles andere übertönt.
Einige der Fans, die neben Malte saßen, hatten während des Spiels dann ganz offen »Sieg Heil« gerufen.
Plötzlich hatte er das Gefühl, nach Hause gekommen zu sein und endlich dazuzugehören. Hier ging es nicht darum, woher man kam oder wer man war. Hier ging es um Spaß und darum, mal richtig die Sau rauszulassen. Immer wieder kreisten Becher mit Jagatee, und am Ende des Spiels hatten die meisten etwas mehr getrunken, als sie vertrugen. Entsprechend ausgelassen war die Stimmung gewesen. Nach diesem Erlebnis hatte Malte sich eine Dauerkarte besorgt, und so stand er Spiel für Spiel bei Thomas und den anderen.
Er hatte Freunde gefunden, mit denen er reden konnte, wie ihm der Schnabel gewachsen war. Es war toll, endlich anders sein zu können – anders als sein langweiliger Vater, der sich zeit seines Lebens als Bäcker durchgeschlagen hatte. Ein anstrengender Job, der bedeutete, mitten in der Nacht aufzustehen. Und wofür? Für eine biedere, heile Welt, für ein paar dampfende Schrippen, ein paar Streuselstückchen oder eine Handvoll Croissants?
Nie war sein Vater aus seinem Bäckerladen rausgekommen. Entsprechend begrenzt waren seine kleine Welt und sein Bild von ihr. Malte hatte keinen Bock, sich den Arsch aufzureißen für das bisschen Kohle. War es das wert, sich dafür die Nächte um die Ohren zu hauen und dann am Nachmittag so müde zu sein, dass er keine Lust mehr hatte, etwas zu unternehmen?
Er wollte etwas erleben, die Welt kennenlernen. Ihn faszinierte das Zusammengehörigkeitsgefühl der Hooligans, hier stand jeder für jeden ein und half, wo er konnte. Das war ein wenig wie die drei Musketiere, die er in seiner Jugendzeit immer so bewundert hatte: Einer für alle und alle für einen. Natürlich waren es auch ihre Schlagkraft, ihre Provokation und ihr Anderssein, die ihn faszinierten.
Zunächst war er nur der klassische Mitläufer, ausgestattet mit einer Bomberjacke der Marke Thor Steinar, einem Lonsdale-Shirt und einer Plakette mit der Aufschrift »Deutschland den Deutschen«. Damals ging es ihm vor allem um eines: Auffallen um jeden Preis. Er wollte cool sein, Mädchen erobern – und das konnte er nur, wenn er an der Waldorfschule auffallen würde. Überhaupt kotzte ihn diese Schule an. Da waren lauter Weicheier, angefangen von den Lehrern, die nicht mal auf den Tisch hauen konnten, wenn es angebracht war, bis hin zu den Schülern. Alles Memmen, Muttersöhnchen und Prinzesschen, die sich im wahren Leben nicht zurechtfanden oder den Anforderungen nicht gewachsen waren.
Immer samstags ging er mit seinen neuen Kumpels zum Fußball, und da konnten sie dann mal wieder richtig ablästern über die »Juden«, die »schwulen Schweine« und das »heilige Deutschland«. Und dann waren da noch die Demos und die Konzerte, die echt cool waren. Es war so eine Art »Geheimbund«, man musste immer vorsichtig sein, wenn man etwas organisierte, um nicht Gefahr zu laufen, sich ein Verbot einzufangen, durch das die Veranstaltung dann möglicherweise noch kurzfristig abgesagt werden musste.
Sein erstes Konzert erlebte er mit den »Böhsen Onkelz« in einer alten Lagerhalle. Ein paar hundert Leute waren gekommen. Eine tolle, ausgelassene Atmosphäre war das hier, echt abgefahren. Ein Gefühl von Freiheit erfasste ihn augenblicklich. Er fühlte sich von jeglichen Zwängen seines bisherigen Lebens und vor allem von seiner Verklemmtheit befreit. Dann schwollen die »Böhse Onkelz«-Rufe immer weiter an, das Publikum johlte und klatschte abwechselnd.
Und schließlich war es so weit. Der Frontmann – eine Mischung aus Engel und Teufel, mit gelocktem, zu einem Zopf gebundenem Haar und markanten Tattoos auf den Armen – betrat die Bühne und intonierte seinen ersten Song »Bin ich nur glücklich, wenn es schmerzt«.
Die Bühne war ganz in Schwarz gehalten, und ein rotblaues Farbenspiel aus einigen Dutzend Scheinwerfern gab Sänger und Band eine mystische Aura.
Die wehmütige, von Gitarrenakkorden begleitete Ballade und der Sound gefielen Malte. Sie waren wie Balsam für seine arme, traurige und manchmal so dunkle Seele. Die rauchige und aggressive Stimme des Sängers mit den Gitarrensoli und den Bassklängen waren anders als das, was er erwartet hatte. Viel hatte er schon von sogenannten Nazi-Bands gehört, ihren volksverhetzenden Texten,
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