Die Lust des Bösen
mussten in der Lage sein, sowohl in die Haut des Täters als auch in die des Opfers zu schlüpfen, mussten den Tatort in ihrer Fantasie – wenn nötig – neu erschaffen.
Sie mussten wissen, wer die Opfer waren, wie sie reagierten, wenn der Täter sie mit einer Pistole, einem Messer, einem Stein, seinen Fäusten oder sonst etwas bedrohte. Ja, sie mussten ihren Schmerz fühlen können, wenn er sie vergewaltigte, schlug oder auf sie einstach. Sie mussten sich vorstellen können, was sie durchmachten, wenn der Täter seine Opfer zur Befriedigung seiner sexuellen Bedürfnisse folterte. Sie mussten verstehen, wie es war, wenn die Opfer vor Entsetzen und vor Qualen schrien und wussten, dass es nichts nützte und sie ihn nicht aufhalten konnten.
Die Studenten mussten wissen, wie all das war. Denn nur dann, sagte Steiner in solchen Momenten eindringlich, würde es ihnen gelingen, sich in die Seele des Mörders hineinzuversetzen, und nur dann würden sie ihn auch in die Ecke drängen und schließlich zur Strecke bringen können. Für Lea war es damals und auch heute noch eine schwere Belastung, die ihrer Psyche alles abverlangte.
Besonders dann, wenn die Opfer junge Frauen waren, die ihr ganzes Leben noch vor sich gehabt hatten, war es manchmal schier unerträglich.
Lea holte tief Luft. Noch immer blickte sie mit starren Augen ins Leere.
Der Professor sagte nichts. Er kannte diesen abwesenden Blick und wusste, dass er sie wohl an etwas erinnert hatte.
»Nun«, brachte sie schließlich verlegen hervor, während sie endlich das Licht einschaltete, »ich habe schon mal etwas vorbereitet, ganz so, wie Sie es auch immer gemacht haben. Welche Fotos möchten Sie zuerst sehen?«
»Na, die vom Tatort natürlich!«
Steiner setzte sich in die erste Reihe des Hörsaals und machte es sich sichtlich bequem. Er schlug die Beine übereinander und schaute Lea erwartungsvoll an.
»Nun, Frau Lands, wir können anfangen, ich bin ganz Ohr.«
Die Profilerin war äußerst konzentriert. Sie zeigte auf das erste Foto, auf dem sie den Tatort oder vielmehr den Fundort in Hitlers altem Fahrerbunker erkennen konnten.
»Interessant«, stellte der erfahrene Professor, der schon viele Tatorte gesehen hatte, fest. Bevorzugt wurden Leichen auf einsamen Waldlichtungen, manchmal an Seen, Uferböschungen und in alten Fabrikhallen abgelegt, aber das hier war neu.
Aufmerksam betrachtete er die Fotos und tippte auf eines. Das war der letzte Fundort, die Wolfsschanze, Hitlers ehemaliges Führerhauptquartier im heutigen Polen.
»Na, das wird ja immer besser, da hat wohl jemand eine Vorliebe für den alten Knaben Adolf, hmm? Es verspricht jedenfalls kein langweiliger Abend zu werden.«
»Nein, sonst hätte ich Sie nicht hergebeten«, bekräftigte Lea sanft und dennoch bestimmt. Dieser Fall hier sei eben so außergewöhnlich, dass er auch ebensolcher Methoden bedürfe.
»Da haben Sie wohl Recht«, stellte Steiner fest und lächelte versonnen.
Wenn du wüsstest, dachte er, meine kleine, süße Profilerin, wie schön es für mich ist, mal wieder einen Abend mit einer jungen, attraktiven und zugleich so eloquenten Frau verbringen zu dürfen. War es nicht so, dass seine Ehe schon lange »eingeschlafen« war – zwei Menschen, die in einer Art Wohngemeinschaft nebeneinander her lebten, sich ab und zu mal zum Essen und zum Fernsehen trafen, aber darüber hinaus nicht mehr sonderlich viel gemein hatten? Ja, es war bitter, aber genau so war es. Abgesehen davon schliefen sie jetzt schon ein paar Jahre getrennt, sodass auch sein Sexleben ziemlich eingerostet war. Schon traurig zu sehen, sinnierte er verbittert, was von der einstigen Liebe, die sie doch einmal verbunden hatte, übrig geblieben war.
»Also«, bemerkte er energisch, als ob er damit die wehmütigen Gedanken verdrängen wollte, »dann lassen Sie mal hören. Was wollte der Künstler, und es handelt sich hier um einen äußerst fantasievollen Künstler, uns damit sagen?«
»Nun ja, es ist nicht ganz einfach«, begann Lea, »denn es sind eine Menge Botschaften, die er hier für uns zurückgelassen hat. Man muss aufpassen, dass man sich in diesem Puzzlespiel nicht verliert oder gar verzettelt. Schließlich kommt es darauf an, die wesentlichen Teile herauszufiltern und sich auf sie zu konzentrieren.«
»Was sind denn die wesentlichen Details seines ›Kunstwerkes‹?«, wollte der Professor wissen. »Beginnen wir doch einmal mit dem Einfachsten – den Tat- oder vielmehr Fundorten«, ergänzte er.
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