Die Lust des Bösen
der anregenden Atmosphäre der Uni treffen. Also sagen wir gegen sieben heute Abend im Hörsaal?«
»Danke, Professor!«, rief die Profilerin begeistert. Sie wusste doch, dass er sie verstand.
»Ich verstehe Sie besser, meine kleine Lea, als Sie glauben«, murmelte er in den Hörer, als sie schon aufgelegt hatte.
»Musst du noch mal weg?«, rief seine Frau aus der Küche. Er bejahte. Ein Fall, aber es würde nicht lange dauern.
Mirja kannte diese Art von Entschuldigung nur zu gut. Im Klartext bedeutete das, dass er keine Ahnung hatte, wie lange es dauern würde, und dass sie besser schon mal allein essen sollte. »Ich werde dir etwas in den Kühlschrank stellen, wenn du kommst, kannst du es dir dann warm machen«, sagte sie.
Pünktlich fand sich Lea im Auditorium der Uni ein. Schon komisch, zu solch später Stunde hier zu sein, fast gespenstisch, denn bis auf den Pförtner schien niemand mehr im Haus zu sein.
Gerade wollte sie den Hörsaal betreten, als ihr Handy klingelte und sich die polnische Gerichtsmedizinerin Dr. Carolina Kalinowski meldete. Die Rechtsmedizinerin erklärte ihr, dass sie das DNA-Schema erhalten und es mit den Spermaspuren an ihrer Leiche verglichen hätten: Zu neunundneunzig Prozent stimmten sie überein.
»Vielen Dank, Frau Dr. Kalinowski, das war wirklich nicht nur schnelle, sondern auch gute Arbeit. Sie haben mir sehr geholfen. Jetzt wissen wir, dass wir es mit ein und demselben Täter zu tun haben.«
Gerade wollte Lea das Licht einschalten, als sie eine angenehme, warme Stimme hörte. Es war der vertraute Tonfall des Professors.
»Schön, dass Sie so schnell kommen konnten.« Lea war sichtlich erfreut, ihn zu sehen.
Steiner war eine Persönlichkeit, die einen Raum allein mit ihrer Präsenz ausfüllen konnte, ein Mensch, der auf den ersten Blick faszinierte. Und vielleicht lag ein wenig von dieser Faszination in seinen Fällen begründet, die er ihr und den anderen Studenten während des Studiums präsentiert hatte. Wahrscheinlich hatte sie deshalb seine Vorlesungen so intensiv in sich aufgesaugt und alle Fakten gierig aufgenommen. Immer lag etwas Rätselhaftes, Unergründliches und eine Spur von Geheimnis in seinem Blick. Außerdem kam noch etwas Seltenes, aber für die Studenten Entscheidendes hinzu: Alles, was Steiner präsentierte, stellte er mit einer gehörigen Prise Witz und Selbstironie vor, die ihn zu einem der beliebtesten Professoren der Uni werden ließ. Er pflegte einen unkonventionellen Stil, lehnte sich meist unprätentiös an den riesigen dunklen Holztisch, der in der Mitte des Podiums stand, lief zuweilen durch die Reihen und sprach seine Studenten persönlich an. Anonymität gab es bei ihm nicht, jeder von ihnen, der neu hinzugekommen war, musste sich kurz vorstellen und seine Motivation darlegen. Wenn dem Professor dann nicht alles, was der Student präsentierte, plausibel oder passend erschien, schickte er auch mal einen von ihnen fort.
»Herr Schulte«, hatte er einmal zu einem ihrer Kommilitonen gesagt, der äußerst introvertiert und sensibel war und auch genauso zerbrechlich wirkte, »ich denke, Sie sind in meiner Vorlesung nicht gut aufgehoben, Sie würden Schaden an der Seele nehmen, und das kann und möchte ich nicht verantworten. Suchen Sie sich ein anderes Spezialgebiet, eines, das besser zu Ihnen passt. Überlegen Sie sich gut, ob Sie sich mit dem Grauen konfrontieren oder lieber Ihr Seelenheil schützen wollen, denn wenn Sie einmal in die Abgründe geblickt haben, gibt es kein Zurück mehr. Ihr altes Leben einfach so weiterzuleben, wird dann nicht mehr möglich sein.«
Schulte hatte damals einen Weinkrampf bekommen und den Saal sofort verlassen, aber später war er Steiner dankbar dafür gewesen, dass er ihn vor Schlimmerem bewahrt hatte.
Die paar – es waren lediglich fünf –, die dann in seiner Vorlesung verblieben waren, waren sozusagen der »harte Kern« mit einer zumindest einigermaßen gefestigten Persönlichkeit und einem hohen analytischen Potenzial. Das war eine der wichtigsten Fähigkeiten, die Steiner von seinen Studenten erwartete: Sachlich, rational und analytisch sollten sie an ihre Fälle herangehen.
Aber da war noch etwas, das er voraussetzte, nämlich dass sie sich einfühlen konnten, und zwar nicht etwa in die Leiden der Opfer – das wäre zu einfach gewesen –, nein, er wollte, dass sie sich einfühlten in die Seelen der Täter. Sie sollten herausfinden, wie Täter tickten, versuchen, so zu denken, wie sie dachten. Sie
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