Die Lust des Bösen
»hier haben wir einen Täter – vermutlich handelt es sich um einen Mann mittleren Alters –, der sich in dieser Welt nicht wohlfühlt. Wahrscheinlich ist er ein Außenseiter, unsicher und vielleicht auch ein wenig schrullig. Niemand mag ihn. Wahrscheinlich lehnten ihn seine Eltern schon als Kind ab und gaben ihm keine Liebe, sodass er sich mehr und mehr in seine eigene Welt zurückgezogen hat.«
Jetzt hatte Lea ihre Fassung wiedererlangt und war ganz in ihrem Element. »Ja, Liebe, das ist vielleicht sein Thema – er hat wohl niemanden und empfindet nichts. In ihm ist eine große Leere. Er ist einsam.«
»Ja, richtig, und was tun Menschen, wenn sie einsam sind?« Steiner spürte, dass sie dicht dran war.
»Nun, sie wenden sich der Religion zu oder anderen Organisationen, von denen sie sich Halt versprechen, den sie nicht von ihrer Familie bekommen.«
»Richtig! Die Kandidatin hat hundert Punkte«, rief der Pro fessor erfreut. »Aber nun kommt noch eine letzte, entscheidende Frage: Hat ein und derselbe Täter die beiden Morde verübt, und wie ist Ihre Prognose?«
Lea war sich nach dem Anruf der polnischen Rechtsmedizinerin sicher, dass die beiden Toten auf das Konto desselben Täters gingen, aber wenn er damit durchkäme, wären es sicher nicht seine letzten Morde.
»Ja«, bekundete sie schließlich. »Ich glaube zwar nicht, dass er gleich wieder zuschlagen wird, denn diese Taten werden ihn vermutlich für die nächsten Wochen bis Monate ausfüllen. Aber irgendwann, wenn die Umstände günstig sind und sich ein passendes Opfer anbietet, wird er die Gelegenheit wahrnehmen. Das sagen mir die vielen verschlüsselten Botschaften und der Zustand der Leichen. Die Positionierung in dieser erniedrigenden, ritualisierten Körperhaltung zeigt mir auch, dass er seine Taten nicht sonderlich bereut. Wären die Leichen bedeckt gewesen, wäre das vielleicht ein Anzeichen dafür, dass es ihm möglicherweise leidtut und er ihnen eine gewisse Würde lassen will, aber das ist durch die Entblößung der Leichen und vor allem durch die Organentnahmen ausgeschlossen.«
»Na, da haben Sie aber doch schon eine Menge zusammengetragen«, bemerkte Steiner anerkennend, »und wissen Sie, was wir jetzt machen? Wir gönnen uns eine kleine Pause und gehen gemeinsam etwas essen, was halten Sie davon?«
Zunächst war sie etwas unsicher und wusste nicht recht, was sie von diesem Vorschlag halten sollte. Was wollte er von ihr?
»Si e müssen sich keine Sorgen machen, Frau Lands, ich werde nichts tun, was Sie nicht auch selbst wollen.« Er lächelte sie aufmunternd an. Schließlich wollte er seine – ehemals beste – Studentin auf den Weg bringen, damit sie eine ebenso gute Profilerin wurde.
Sie war einverstanden. »Was schlagen Sie vor?«
»Also, zunächst schlage ich vor, dass Sie mich Sam nennen.«
»Gut, Sam.« Sie wollte ihm die Hand darauf geben.
»Nein, so kühl läuft das nicht, wollen Sie mich nicht umarmen?«, fragte er charmant, während er ihr wieder ganz nahe kam.
»Umarmen wie einen guten Freund?«, setzte er nach, als er ihr Zögern bemerkte. »Denn ich glaube, ich bin ein guter Freund, ein wirklich guter Freund, vielleicht der beste, den Sie je haben werden.«
Jetzt musste Lea schmunzeln. »Na, wenn das so ist«, sagte sie keck und umarmte ihn herzlich.
Nie hätte sie das für möglich gehalten, dass sie einmal mit Steiner hier im Hörsaal stehen würde, sie sich duzten und er ihr anbieten würde, ihr guter Freund zu sein. Aber warum nicht?
Luigi war ein typischer italienischer Gastwirt, korpulent, von kleinem Körperwuchs und mit dichten dunklen Haaren.
»Prego, Professore, kommen Sie herein, ich freue mich sehr, Sie zu sehen.«
»Das ist meine – ja, was eigentlich?«, fragte er.
»Nun, ich bin seine Freundin«, und als sie Luigis irritierten Blick sah, ergänzte Lea, »seine beste gute Freundin.«
»Ich verstehe schon.« Der Gastwirt grinste wissend. Und während sie auf das Essen warteten, und sich unterhielten, ließ Steiner eine Frage nicht mehr los: So attraktiv, intelligent und zielstrebig, wie seine ehemalige Studentin war, musste sie doch eine Beziehung haben.
»Wie sieht es in deinem Privatleben aus?«, wollte er schließlich wissen. »Gibt es da jemanden?«
»Du meinst, so etwas Festes?«
Sam nickte, während sie zögernd den Kopf schüttelte.
»Aus diesem Zögern schließe ich, dass du zwar noch nichts Festes hast, es aber jemanden gibt, mit dem du dir so etwas vorstellen könntest.«
»Ja«,
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