Die Lust des Bösen
blutenden Körper sah, fuhr sie zusammen.
»Entschuldigen Sie, ich habe nicht gesehen, was mit Ihnen ist. Kommen Sie, ich bringe Sie in ein Krankenhaus«, sprach sie mitfühlend.
»Nein, nein, kein Krankenhaus! Bitte, kein Krankenhaus. Sie müssen mir versprechen, dass Sie mich nicht dorthin bringen! Bitte!«
Die Fahrerin sah ihren angstvollen Blick.
Das Letzte, was Anna jetzt wollte, waren lange Untersuchun gen und beschämende Fragen, auf die sie keine Antworten wusste. Keine weiteren Erniedrigungen, die ihr noch den letzten Rest ihres Selbstbewusstseins rauben würden.
Die Frau hatte verstanden, und so widersetzte sie sich nicht, als sie Anna in ihr Auto geleitete. »Wo wohnen Sie?«, fragte sie freundlich, während sie den Motor anließ.
»Haben Sie jemanden, der auf Sie aufpassen kann? Ich glaube, es wäre nicht gut, wenn Sie jetzt allein sind.«
»Ja«, log Anna, denn sie wollte nichts weiter als sich unter eine heiße Dusche stellen und alles, was passiert war, einfach abspülen. Was immer es war, es musste so schrecklich gewesen sein, dass sie sich nicht mehr daran erinnern konnte. Es war in ihrem Kopf ausgelöscht. Und dennoch hatte es ein Gefühl der tiefen Demütigung hinterlassen. Es hatte etwas von ihr mitgenommen. Sie war leer und spürte sich nicht mehr.
Wenig später floss das Wasser der Dusche über ihren Körper, warm, wärmer und dann heiß. Immer weiter drehte sie den Temperaturregler auf, als ob sie mit der zunehmenden Hitze die Leere abspülen könnte. Aber nichts dergleichen geschah. Die Leere blieb. Sie wusste nicht, wie lange sie wohl unter der Dusche gestanden hatte, aber es musste eine lange Zeit gewesen sein, die Spiegel in ihrem Bad waren komplett beschlagen, in der Duschwanne, die chronisch verstopft war, hatte sich schon viel Wasser gesammelt.
Sie spürte tief in ihrem Inneren, dass man ihr etwas geraubt hatte: ihre Selbstachtung. Und dann plötzlich drangen Worte in ihr Bewusstsein, Worte, die sich wie Schwerter tief in ihre Seele bohrten: »Jedes Geschlecht hat seine Aufgabe im Dasein des Volkes, und dieser Rolle gilt es gerecht zu werden.«
Wie perfide und frauenfeindlich das klang! Wie ein Schlag mit der Faust ins Gesicht. Was war bloß mit ihr geschehen? Warum sah ihr Körper so schrecklich aus mit den vielen, unzähligen Striemen auf der Haut und dem vielen Blut?
Aber wie sehr sie sich auch anstrengte und ihr Gehirn malträtierte, sie konnte sich einfach nicht erinnern. Es war wie ein Albtraum, den man versuchte zu verdrängen, weil er zu schrecklich war. Anna konnte ihre Tränen nicht länger zurückhalten; hemmungslos begann sie zu weinen. Es waren bittere Tränen, und ihr ganzer Körp er schüttelte sich. Sie weinte so lange, bis sie sich übergeben musste. Weinte, bis sie nicht mehr konnte und erschöpft in sich zusammensank. Und wenn sie ihren geschundenen, wunden Körper betrachtete, stieg erneut Übelkeit in ihr hoch. Ja, sie ekelte sich vor sich selbst, sie wusste nicht, wer diese alte, gebrochene Frau hier in der Dusche eigentlich war. Langsam trocknete sie diesen Körper ab, der ihr so fremd war.
Unterdessen marschierte der General mit seinem Gefolge durch die Straßen des kleinen Dorfes. Die Gruppe war stark angetrunken, brüllte und pöbelte herum. Sie suchten nach Streit, nach einem Weg, ihrem Zorn, ihrer Langeweile und ihrer überschüssigen Energie ein Ventil zu geben. Und tatsächlich: Eine Anwohnerin hatte sie »erhört« und öffnete – aufgeschreckt von dem Geschrei – ihr Fenster.
»Hey, ihr da, gebt endlich Ruhe«, schrie sie der Gruppe entgegen.
Darauf hatten sie nur gewartet, denn das war der Klebstoff, der sie tief im Inneren zusammenhielt – die Provokation. Michael, einer der Gefolgsleute des Generals, schrie wütend: »Halt’s Maul, du alte Sau!«
Mathilda, eine zwar schon ältere, aber durchaus couragierte Dame, ließ jedoch nicht so leicht locker.
»Was soll das? Wisst ihr denn nicht, wie spät es ist? Wenn ihr nicht Ruhe gebt, rufe ich die Polizei, und zwar gleich.«
Die Gruppe wurde wütend; nur ein Handzeichen des Generals reichte aus, und sie begannen damit, Mathilda zu drohen: »Wenn du nicht sofort das Maul hältst, du blöde Fotze, fackeln wir deine Bude und deine Karre ab. Dann ist Ruhe!«
Durch den Lärm wurde schließlich auch Alois, ihr Mann, wach, der im Wohnzimmer auf dem Sofa lag und wie schon so oft beim Fernsehen eingeschlafen war.
Es dauerte nicht lange, bis er realisierte, was da vor sich ging, und
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