Die Lust des Bösen
gar endlose Aussagen vor Gericht machen. Sie wollte nicht in die Augen der Ermittler sehen, wollte nicht ihre Zweifel, ihre Ablehnung oder gar ihre Vorwürfe oder die Schuldzuweisungen hören, die sie ihr entgegenschleudern würden. Sie wollte keine Fragen nach dem Warum beantworten, wollte nicht sagen müssen, warum sie sich nicht gewehrt hatte. Die Vorstellung, dass Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit aufkommen würden oder dass man ihr gar eine Mitschuld zuschreiben könnte, entsetzte sie. Und vor allem wollte sie keine Fotodokumentation ihres geschundenen Körpers, denn das, was so viel schlimmer war, konnte man nicht sehen: die Wunden, die sich tief in ihre Seele eingebrannt hatten.
Immer wieder hatten sie in den letzten Nächten diese Albträume verfolgt: Männer, die sie lüstern und abschätzig ansahen. Szenen wie diese waren es, die sie nicht zur Ruhe kommen ließen. Jede Nacht schreckte sie auf. Sie wollte weg, raus aus diesen Albträumen, aber sie konnte nicht. Manchmal stand sie dann auf, schaltete den Fernseher an oder versuchte, sich mit dem Computer abzulenken.
Dann, in einer dieser Nächte, erhielt sie eine Mail vom General. »Love and Pain by Black Brothers« stand dort. Sie klickte den Link an, der sie auf die Internetplattform der Black Brothers führte, und entdeckte das Video jenes Abends. Niemand hätte ihre Verzweiflung ermessen können, als sie sah, dass diese schrecklichen, erniedrigenden Szenen nicht nur ihre Träume beherrschten, sondern auch die Realität. Hunderte, vielleicht sogar Tausende dieser widerwärtigen, schmierigen Typen würden sich daran aufgeilen können. Vielleicht würden es gar Mehmet und seine Türkengang sehen. Es gab kein Entrinnen mehr. Anna konnte das Erlebte nicht mehr abschütteln, nie mehr – weder am Tag noch in der Nacht. Die ganze Welt konnte es sehen.
Was sollte sie jetzt tun? Was sollte sie ihren Freunden sagen und was ihren Eltern? Wie um alles in der Welt sollte sie das vor ihnen rechtfertigen, was sie noch nicht einmal vor sich selbst rechtfertigen konnte? Es war unverzeihlich, entwürdigend, demütigend.
Vielleicht hatte Holger damals Recht gehabt, dass er sich von ihr trennte – von einer solchen Schlampe. Vielleicht war sie es einfach nicht wert gewesen. Und wo war eigentlich Linus? Welche Rolle hatte er gespielt?
Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Vielleicht war es alles doch ihre Schuld. Vielleicht hatte sie das alles provoziert? Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr Argumente fand sie, die sie weiter und weiter und immer tiefer hinab in den Abgrund zogen. Von jetzt ab gab es kein Zurück mehr. Nur noch eines: Sie musste ihre Schuld und die Schande aus dieser Geschichte abwaschen, sich reinigen, wie die Taufe die Gläubigen symbolisch von der Unreinheit der Seele reinwaschen soll. Das Wasser würde die Unsauberkeit ihres Leibes einfach hinwegspülen, und all das würde verschwinden, was sie so sehr quälte. Es musste viel Wasser sein, es musste überall und alles durchdringend sein.
Es war gegen sechs Uhr morgens, als Jogger ihre Leiche am Ufer des Sees fanden.
D er Himmel hatte sich vollkommen verfinstert. Kein nor males Gewitter oder bevorstehendes Unwetter konnte eine solch düstere Szenerie heraufbeschwören. Schwarzer Qualm vernebelte den Horizont. Düstere Rauchschwaden, die ineinander verwoben schienen, zeugten von der Feuersbrunst, die gerade über die Erde hinweggefegt war und alles vernichtet hatte.
Lea war vollkommen außer Atem. Wie lange schon war sie gerannt? Unablässig, bis sie in dieser verdammten Einöde strandete. Eine felsige Insel, auf der nur wenige verkohlte Baumstümpfe von einstigem Leben zeugten.
Sie blickte sich um. Jemand verfolgte sie, aber sie konnte ihn nicht sehen. In ihr war Angst, nichts als nackte Angst. Diffus ahnte sie, dass etwas Schreckliches hinter ihr her war und sie in den Abgrund reißen wollte, hinabziehen in das schwarze Meer, das unter ihr tosend an die Felsen brandete.
Noch immer stand sie – unfähig, sich zu bewegen – oben auf den Klippen der Insel und sah sich hilfesuchend um. Wo nur konnte sie noch hin?
Dann glaubte sie Schreie zu hören. Sie blickte in die Richtung, aus der sie zu kommen schienen, konnte aber nichts erkennen. Nach einer Weile der Stille setzten sie wieder ein – so grauenhaft, so bedrohlich, dass Lea ein paar Schritte in die Richtung ging, aus der sie sie vermutete. Plötzlich sah sie eine Gestalt; zunächst nur umrisshaft, dann klarer.
Es war eine nackte
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