Die Lust des Bösen
Hofmann, erreichte aber nur seine Mailbox.
»Max, du musst etwas für mich tun! Bitte geh zu diesem Linus, du weißt schon, dem jungen Mann von der Teilnehmerliste, die wir von den Kollegen in Polen bekommen haben. Ich halte es für möglich, dass er der Drahtzieher ist und Jack die Beweise nur untergeschoben hat.« Die Verbindung riss ab. »Kein Netz, so ein Mist«, fluchte Lea.
Und während sie sich darauf zu konzentrieren versuchte, die vorgeschriebenen Hundertzwanzig auf der Autobahn Richtung Zürich einzuhalten, verschwommen die Berliner Geschehnisse, und sie erinnerte sich unvermittelt an ihre Kindheit, als wäre es gestern gewesen.
Viel Zeit, genau genommen ihre gesamte Kindheit und Jugend, hatte sie hier in diesem verschlafenen kleinen Örtchen am Zürichsee verbracht: Rapperswil-Jona, auch Rosenstadt genannt, war nur eine halbe Stunde entfernt von Zürich, und dennoch schien es wie eine Reise in eine andere Zeit. Hier gab es ein Schloss, eine Seepromenade und einen Hirschpark, einen Bäcker, einen Metzger und einen Tante-Emma-Laden – alles war klein und überschaubar und so gar nicht vergleichbar mit der Metropole Zürich, in der Menschen anonym nebeneinander her lebten und meist noch nicht einmal ihren Nachbarn kannten. Nein, hier kannte jeder jeden. Es war eine kleine, vertraute und zuweilen auch verschworene Dorfgemeinschaft.
Lea bog von der Hauptstraße in die kleine Seitengasse, die hinunter zum See führte. Und hier lag sie, die »Villa Roseck«. Etwas verwunschen sah sie aus mit ihrem von Efeu und wildem Wein eingewachsenem Gemäuer und ihrem schönen, dreigeteilten Jugendstil-Giebel.
Die Profilerin stieg aus und betrachtete das Haus, zu dem ein rosengesäumter Kiesweg führte, der ihm wohl auch seinen Namen gegeben hatte. Noch gut erinnerte sich Lea an die neun Stufen, die sie manchmal mit drei Sprüngen locker geschafft hatte.
Sie öffnete die eisenbeschlagene Tür aus schwerem Mahagoniholz, die den Besucher förmlich einlud, einzutreten und der Geschichte des Gebäudes zu lauschen. Denn »Roseck« war anders als viele der modernen Häuser, die man in der näheren Umgebung finden konnte und von denen einige architektonisch so durchgestylt, langweilig und steril waren, dass man manchmal gar nicht so genau wissen wollte, wer wohl darin lebte. Dieses Haus hier hatte eine Geschichte zu erzählen. Es hatte eine Seele, wie ihre Tante Annelie so oft bemerkt hatte.
Als Kind hatte sie immer den Verdacht gehegt, dass ein Geist in dem Gemäuer lebte. Seltsame Dinge hatte sie dort manchmal nachts wahrgenommen. Geräusche, die durch den Wind allein nicht erklärbar waren, und oft hatte sie ein Knarren gehört, als ob jemand über die alten Holzdielen lief. Ihre Tante hatte ihr erzählt, dass dieses Haus einmal einem hochrangigen SS-Offizier gehört hatte, der wohl im Zweiten Weltkrieg ums Leben gekommen war. Sein Tod wurde allerdings nie wirklich aufgeklärt. Vielleicht war es ja so, dass dieser Offizier Gerechtigkeit oder Vergeltung forderte und sich deshalb entschlossen hatte, nicht ins Licht zu gehen. Vielleicht hatte er auch einfach Angst davor, von einer höheren Macht für seine Taten bestraft zu werden. Wie auch immer: Lea liebte Geschichten von Geistern und geheimnisvollen Menschen; sie waren nichts, wovor sie sich gefürchtet hätte. Und dazu hatten wohl auch die vielen Geistergeschichten ihrer Tante beigetragen, die fest daran glaubte, dass die Seelen der Verstorbenen weiterlebten und dass manche, wenn sie noch eine Aufgabe zu erledigen hatten, auch zuweilen noch hier auf der Erde weilten.
Verträumt schaute Lea hoch zu ihrem geliebten Turmzimmer. Von dort aus hatte sie über den Zürichsee bis auf das Schnebelhorn und die Ausläufer des Juragebirges blicken können, die meist ein kleines Schneehäubchen trugen. Oft hatte sie auf dem kleinen Bootssteg direkt vorm Haus gesessen und auf den See hinausgeschaut. Sie hatte einfach nur dagesessen und den Anblick genossen, wie sich die Sonne auf dem Wasser spiegelte und der Wind einige kleine Wellen auf das sonst so glatte Wasser zauberte.
Aber besonders schön war es nachts, wenn sich Tausende kleine Lichter der Häuser am gegenüberliegenden Ufer im See spiegelten.
Lea war gern hier. Ihre Tante, eigentlich Amerikanerin, hatte es vor Jahren hierher verschlagen, als ein entfernter Verwandter ihr dieses Haus vererbte. Eine kluge, gutmütige ältere Dame mit viel Humor, obwohl sie in der Erziehung manchmal ein wenig streng gewesen war. Ihr Leben
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