Die Lust des Bösen
sehr stolz auf ihn, dass er das alles geschafft hatte.
Sie lief durch die Gänge dieses neuen, modernen Krankenhauses und war fasziniert. Gerade wollte sie mit dem neuen Aufzug ins Erdgeschoss des Gebäudes fahren, als sie ein Pastor ansprach. Er sei ein Kollege ihres Vaters aus Deutschland, erzählte er ihr, und Adilah unterhielt sich eine ganze Weile mit ihm. Er war ein gutmütiger älterer Herr, der ihr faszinierende Geschichten aus seinem Land erzählte. Und während er von seiner Heimat Berlin sprach, spürte sie plötzlich, wie ihre Neugier erwachte. Sie merkte, wie eng ihre Welt hier war und wie viel dort draußen noch auf sie wartete. Ja, warum eigentlich nicht nach Deutschland gehen und dort studieren? Bestimmt gab es an der Universität La Paz ein Austauschprogramm. Plötzlich war sie Feuer und Flamme und von diesem Gedanken völlig ergriffen.
Nachdem sie diesen Entschluss gefasst hatte, sprach sie noch am selben Abend mit ihrem Vater darüber. Zunächst reagierte er abweisend und schien sich zu sorgen. Wer würde sich dort um sie kümmern, wer würde wohl auf sie aufpassen in einer Großstadt wie Berlin? Schnell hatte sich eine sehr angespannte, hitzige Diskussion zwischen ihnen entwickelt. Die junge Frau wusste nur zu gut, dass es fast unmöglich war, ihren Vater zu überzeugen, wenn er sich an etwas festgebissen hatte. Aber sie würde es wieder versuchen. Vielleicht konnte sie ja auch ihre Mutter dafür gewinnen, sie bei ihrem Vater zu unterstützen. Sie würde ihren Wunsch ganz gewiss respektieren. Nichts war ihr schließlich so wichtig wie das Wohl ihrer einzigen Tochter. Dann eines Abends nach unzähligen erfolglosen Versuchen sprach das Familienoberhaupt das Thema überraschenderweise von selbst an.
»Also gut, meinetwegen«, meinte Palit plötzlich, als sie alle gemeinsam beim Abendessen saßen. Zunächst hatte Adilah nicht gewusst, worauf er eigentlich anspielte, aber dann schrie sie vor Begeisterung auf und umarmte ihn.
»Du musst schon entschuldigen, manchmal bin ich wirklich ein störrischer alter Esel – vielleicht sogar mehr als das«, begann er. »Schließlich hat es noch niemandem geschadet, wenn er seinen Horizont erweitert und die Welt für sich entdeckt. Ich möchte deiner Karriere und deinem Glück nicht im Wege stehen. Auch wenn es mir sehr schwerfällt, dich in der Gewissheit gehen zu lassen, dich nicht mehr beschützen zu können. Aber du bist erwachsen, und ich muss lernen, meinen väterlichen Egoismus zu zügeln. Es ist gut, wenn du jetzt hinaus in die Welt gehst und deine eigenen Erfahrungen machst«, schloss er seine Rede sichtlich bewegt.
Sie war froh, dass ihr Vater sich doch noch besonnen hatte und so reagierte. Nichts war ihr so wichtig wie seine Meinung und seine Zustimmung. Sie achtete und respektierte ihn, und tief in ihrem Inneren bewunderte sie ihn, denn es war sicher nicht leicht, diese zwei Seelen in seiner Brust zu haben. Zum einen war er der religiöse Mensch, der sein Leben so sehr in den Dienst der anderen stellte, dass man manchmal sogar den Eindruck hatte, er hätte sich selbst aufgegeben. Und zum anderen war er der weltoffene und tolerante Mann, für den es fast nichts auf dieser Welt gab, wofür er nicht Verständnis aufgebracht hätte. Zudem verfügte er über die seltene Fähigkeit, Widerspruch und Kritik zu ertragen.
In der Uni hatte sie einmal einen Satz in einem Artikel gelesen: »So lange du dem Anderen sein Anderssein nicht verzeihen kannst, bist du noch weitab vom Weg zur Weisheit.«
Vielleicht war ihr Vater auch deshalb so ein weiser Mann, weil er dieses Anderssein der Menschen akzeptierte. Aber vielleicht lag es auch schlichtweg in der Natur der Dinge, dass er sich als weltoffener und toleranter Mensch dafür einsetzte, dass jeder Mensch in seinem Leben genau das tun sollte, was ihm wichtig war und was er für wertvoll befand.
Sie wollte diesen besonderen Menschen, den sie so sehr liebte und bewunderte, auf keinen Fall enttäuschen.
Ein paar Monate später stand Adilah in ihrer neuen Wohnung in Berlin-Mitte, in der sie gemeinsam mit Norah und Jessi, zwei Medizinstudentinnen, lebte, und freute sich. Sie hatte es geschafft, ihren inneren Schweinehund zu überwinden, und sich ins Abenteuer gestürzt. Sie hatte ihre enge, religiöse Welt verlassen und eingetauscht gegen eine Stadt, die voll mit pulsierendem Leben war. Aber Berlin war eben auch eine teure Stadt, zumindest verglichen mit La Paz, sodass die Studentin manchmal nicht genau wusste, wie
Weitere Kostenlose Bücher