Die Lust des Bösen
lang hatte sie auf Männer eine gewisse Anziehungskraft ausgeübt. Vielleicht lag es an ihren wachen grünen Augen, ihrem Witz und dem Esprit, mit dem sie durchs Leben ging, vielleicht aber auch an ihrer Unbeschwertheit und der Lebensfreude, die sie ausstrahlte. Annelie war eine gepflegte, elegante Erscheinung gewesen, Mitte fünfzig, aber immer noch fit und adrett anzusehen. Mit dem männlichen Geschlecht hatte sie zeit ihres Lebens Spaß gehabt, war aber nie eine feste Bindung eingegangen, denn sie genoss ihre Freiheit und ihre Ungebundenheit sichtlich. Und wozu hätte sie einen Mann gebraucht? Männer brachten doch auf Dauer nur Probleme. Eine Beziehung, das war ihr zu anstrengend gewesen.
Die junge Profilerin setzte sich auf die Steinstufen vor dem Haus und schwelgte in Erinnerung. Noch gut erinnerte sie sich an die legendären Literaturabende, die ihre Tante, die als freie Lektorin arbeitete, regelmäßig in ihrem Haus veranstaltete. Es kamen Autoren, die damals noch nahezu unbekannt waren, und manche von ihnen hatten es inzwischen zu einiger Berühmtheit gebracht. Sie diskutierten dann lange bei gutem Essen und Wein, saßen am Kamin und lasen aus ihren Werken. Gern hatte Lea dabeigesessen und zugehört, denn sie liebte Geschichten, besonders die, die ein Happy End hatten.
Mit der Zeit war ihre Tante dann für sie eine Art Ersatzmutter geworden. Ihre gesamte Schul- und Abiturzeit hatte sie in dieser Villa verbracht, bis ihre Tante sie nach Deutschland schickte. Studieren sollte sie dort, denn ein Studium sei wichtig, hatte sie ihr immer gesagt. »Mein Kind, wenn du es als Frau zu etwas bringen willst, dann musst du immer besser sein als die anderen. Und das Wichtigste ist, dass du etwas für dich tust, etwas für deinen Kopf. Denn was du erst mal da drin hast, kann dir keiner mehr nehmen.«
Lea sah auf die Uhr; wie schnell die Zeit doch verging. Schon zwei Uhr, und sie musste zu ihrem Termin. Wenig später saß sie in der Rechtsanwaltkanzlei des Notars Dr. Herliberg in einem der modernen, zweckmäßigen Bürogebäude im Herzen Zürichs und lauschte den Worten des Juristen, der ihr den letzten Willen ihrer Tante vorlas. Es war schwer für Lea, ganz besonders, weil sie in den letzten Minuten ihres Lebens nicht für Annelie hatte da sein können. Noch mehr, weil sie noch nicht einmal Abschied nehmen konnte, ihr die letzte Ehre erweisen, denn das Begräbnis hatte der Pfarrer schon organisiert. Die Tante hatte nicht gewollt, dass Lea informiert wurde. Sie hatte sie nicht belasten, nicht aus ihrer Arbeit herausreißen wollen. In aller Stille ohne jedes Aufsehen hatte sie beigesetzt werden wollen, so hatte sie es sich gewünscht. Aber hatte sie dabei auch einmal an die Gefühle ihrer Nichte gedacht?
Während Lea mit ihren Tränen kämpfte, begriff sie langsam, was der Notar da vorgelesen hatte: Sie sollte das Haus erben, aber was um alles in der Welt sollte sie jetzt mit der Villa anfangen? Sie lebte und arbeitete doch in Berlin, und das würde sich auch in der nächsten Zeit nicht ändern. Genügend Geld für den Unterhalt hatte sie auch nicht. Aber die Erbschaft ausschlagen oder gar verkaufen, das kam nicht in Frage, denn sie wusste nur zu gut, was ihrer Tante dieses Haus bedeutet hatte. So viele schöne Erinnerungen hingen daran.
»Kann ich noch etwas für Sie tun, Frau Lands?«, fragte Herliberg, ein grauhaariger Mann Ende vierzig, sie schließlich, als er ihren sorgenvollen Gesichtsausdruck sah.
Aber sie lehnte dankend ab, denn mit seiner betonten Distanziertheit und seiner ruhigen Art, die ihn fast ein wenig behäbig erschienen ließ, war er nicht gerade der Typ Mann, dem sie sich jetzt gerne anvertrauen wollte.
Er war praktisch durch nichts aus seiner Ruhe zu bringen. Mit dieser Schweizer Mentalität war Lea nie wirklich warm geworden, wusste sie doch nie genau, woran sie wirklich war. Manchmal vergingen Monate, in einigen Fällen auch Jahre, bis die Schweizer schließlich auftauten, aber selbst dann war es schwer, eine direkte Antwort auf eine direkte Frage zu bekommen. Die hohe Kunst der Schweizer Diplomatie hatte sich ihr nie erschlossen.
Lea verließ die Kanzlei und wählte erneut die Nummer ihres Kollegen Hofmann. Gott sei Dank meldete er sich.
»Hast du meine Nachricht erhalten?«
»Ja, du hattest recht, Lea.«
»Was heißt das?«, drängte Lea ungestüm.
»Wir haben diesen Linus festgesetzt! Er war tatsächlich der Drahtzieher des Ganzen. Du hattest mal wieder eine gute Nase.«
Die Profilerin
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