Die Lust des Bösen
ging weiter und leuchtete mit seiner Taschenlampe dabei immer wieder die Wände und den Boden ab. Hier lag so viel Schrott und Geröll herum, dass er jeden Moment stolpern und sich verletzen konnte. Die Sprengungen, die hier durchgeführt worden waren, hatten die Stahlkonstruktion an einigen Stellen freigelegt. Auch Kabelrohre konnte er sehen. An der linken Seite des Ganges säumten große weiße Betonpfeiler seinen Weg, die von den Sprengungen nahezu unversehrt geblieben waren.
Heute konnte man die ursprüngliche Größe des Blaupunkt-Bunkers – die etwa zweitausend Quadratmeter betragen haben musste – nur schwer erahnen, denn die Detonationen hatten lediglich eine schmale Schneise übrig gelassen, durch die man gehen konnte. Er war tief beeindruckt. So viele Tonnen Sprengstoff und doch so viel, was noch erhalten war. Auch die meterdicke Stahlbetondecke war noch fast intakt. Und dann sah er ihn, den unterirdischen Aufgang zur Führerloge. Die Stufen waren nahezu unbeschädigt. Wenger hielt inne.
Ganz vorsichtig – als könnte er sie jederzeit mit seinen Händen zum Einsturz bringen – berührte er sie. Fast zärtlich strich er den Schmutz von den Steinen.
Wie viel Staub und wie viel Kalk waren wohl auf die Treppe herabgerieselt, seit Hitler sie das letzte Mal mit seinen eleganten schwarzen Stiefeln betreten hatte? Wie hatte er sich wohl gefühlt, als er damals Stufe um Stufe hinauf zu seiner Loge geschritten war? Und was würde er wohl dazu sagen, wenn er sehen könnte, was die Nachwelt aus seinem Ehrenplatz gemacht hatte?
Ganz gewiss würde es ihn nicht kalt lassen, dass sein geliebtes deutsches Volk sich von ihm abgewandt hatte, ihn hasste, seine Taten verabscheute und ihn als Kriegsverbrecher und Massenmörder brandmarkte.
Stufe um Stufe stieg Wenger höher, aber natürlich endete die Treppe unterhalb der neu eingezogenen Decke.
Für ein paar Minuten setzte er sich auf den oberen Absatz und ließ die Atmosphäre dieses Raumes mit geschlossenen Augen auf sich wirken, atmete sie förmlich ein. Seine Fantasie beschwor die Eröffnungsfeier zur Olympiade herauf. Es war überwältigend. Ein Meer aus Flaggen mit schwarzen Hakenkreuzen auf rotem Grund. Mehr als hunderttausend Zuschauer bejubelten Hitler, der in seiner Loge stand und eine flammende Eröffnungsrede hielt.
»Wir sind vergänglich, aber Deutschland wird bestehen. Wir werden sterben, aber Deutschland wird leben«, waren die Worte des Führers damals gewesen, und Wenger hörte sie jetzt ganz deutlich.
Wieder sah er Hitler in diesem Moment ganz klar vor sich, so wie damals in der Wolfsschanze. Er sah in seine glühenden blauen Augen und hörte seine unverkennbare, ekstatisch theatralische Stimme, die sich gleich zu überschlagen drohte. Sie war es, die dem Zuhörer keine Chance ließ – sie lullte ihn ein, und er glitt in eine Art Trancezustand, bis die Stimme abrupt verstummte.
Er zitterte, Dunkelheit umfing ihn. Dann hörte er das durchdringende Jaulen der Luftschutzsirenen, die den Fliegeralarm ankündigten, und die Schreie der Menschen, die sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten. Er nahm das Feuer der Flakgeschütze, die Explosionen der Bomben, das Brummen der angreifenden Fliegerverbände wahr und das Rauschen der Bomben vor dem Aufschlag.
Er spürte die gewaltigen Erschütterungen, als sie detonierten, sah, wie sich eine riesige Feuerwalze durch Berlin fraß und welch schreckliche Hölle der Vernichtung sie entfachte: Die tausend Grad heißen Feuersbrünste löschten alles Leben aus und hinterließen eine Spur der Verwüstung – ganze Stadtteile verschwanden. Übrig blieben ausgehöhlte, skelettierte Gebäude, überall nichts als Trümmerhaufen. Alles war grau – ein dichter Schleier aus Schutt und Asche hatte sich über die gesamte Stadt gelegt.
Dann sah er, wie sich eine gebückte Gestalt ihren Weg durch die Trümmerhaufen bahnte. Langsam schritt sie, den Blick starr gesenkt zum Mikrofon. Sie wirkte müde. Nichts erinnerte mehr an den beeindruckenden, charismatischen, kämpferischen Politiker von einst. Seine Stimme klang gedämpft, fast ruhig, nichts war mehr von dem mitreißenden, erregten und fanatischen Klang zu hören, der einst Millionen Deutsche in ihren Bann gezogen hatte.
Ein letztes Mal wandte er sich an sein deutsches Volk und beschwor noch im Angesicht seiner Niederlage den Endsieg. Er prophezeite den Untergang, den Niedergang des Gespenstes des »asiatischen Bolschewismus«. Dann wurde es erneut
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