Die Lust des Bösen
Wassertaxis. Sie würde sich schon wieder beruhigen, da war er sich sicher. Jetzt brauchte sie einfach ein wenig Ablenkung und Aufmerksamkeit. Er würde den charmanten, verständnisvollen Mann herausholen, und dann würde es schon klappen.
B islang hatten die Ermittler Wenger nicht ernsthaft in Bedrängnis gebracht. Sie hatten zwar einige junge Nachwuchspolitiker verhört, damals in der Wolfsschanze, und sogar seinen Boss verdächtigt! Aber das alles hatte sie kaum weitergebracht.
Wenger wusste aus den Zeitungen, dass sich die Ermittlungen weiterhin auf die Neonazi-Szene konzentrierten. Er kannte das Täterprofil, das Lea Lands erstellt hatte, und er ahnte, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Es würde nicht mehr allzu lange dauern, bis sie auf ihn kam.
Verdammt, wenn er nur in der Nacht in der Wolfsschanze nicht seine Kette verloren hätte!
Diese Profilerin war ein cleveres kleines Ding – schlauer, als er erwartet hatte. Dennoch musste er dringend weiterma chen, seine Mission war noch nicht beendet – die fulminante Abschlussinszenierung fehlte noch. Einen Ort für diese ganz besondere Vorstellung hatte er sich auch schon ausgesucht – das Olympiastadion.
An diesem Morgen blitzte die Sonne durch die Baumwipfel. Zu dieser frühen Stunde am Sonntagmorgen waren wenige Menschen unterwegs. Nur ein paar unermüdliche Jogger frönten ihrem Körper- und Fitnesskult und keuchten hin und wieder an ihm vorbei, während er einige Minuten regungslos vor dem Hauptein gang des Stadions stand und auf das riesige Areal blickte.
Wie groß mochte es wohl sein, fragte er sich. Angesichts seiner schier unglaublichen Dimensionen war es schwierig, überhaupt ein Gefühl für die Abmessungen des Berliner Olympiageländes bekommen. Ende der zwanziger Jahre musste es gewesen sein, als es in Deutschland erste Bestrebungen gegeben hatte, Berlin als Austragungsort für die Olympischen Spiele vorzu schlagen. Mit Erfolg: 1931 hatte das Internationale Olympische Komi tee Berlin zum Austragungsort der XI. Olympischen Spiele bestimmt. Das Stadion wurde umgebaut, und es entstand ein Stück in Stein gemeißelte Ideologie, die sich lückenlos in den Kontext der neoklassizistischen Monumentalbauten des nationalsozialistischen Regimes einfügte. Dafür sorgten besonders die gleichmäßigen Raster der hohen Pfeiler aus graubraunem Kalkstein, auf denen ein schweres Kranzgesims lastete, das die Arena nach oben hin abschloss.
Etwa zwanzig Minuten lang stand Wenger nur am Haupteingang und bewunderte dieses monumentale Bauwerk. Was ihn jedoch viel mehr interessierte als das, was er hier vor sich sah, war – wie immer – die Welt, die im Verborgenen lag: die Welt unter dem Stadion.
Er überlegte kurz, warf einen Blick auf die mitgebrachte Skizze, lief ein paar Straßen weiter und stieg über einen vergessenen Fußgängertunnel aus der NS-Zeit direkt unter der Passenheimer Straße hinab. Der Tunnel war erstaunlich gut erhalten, wie viele der Baudenkmäler aus der NS-Zeit. Na, das war eben Qualität, was die damals produziert haben, stellte er wieder einmal fest.
Wenger hatte das Ende der Treppe erreicht und blickte sich um. Es war ein kleines Labyrinth, das sich da vor ihm auftat. Welchem Gang sollte er nun folgen?
Es gab keine detaillierten Pläne mehr – nur diese ungenaue Skizze, die er im Internet gefunden hatte –, und so musste er auf seine Intuition vertrauen, die ihm ja schon einige gute Dienste erwiesen hatte. Er lief also zunächst den Gang einige hundert Meter geradeaus.
Feuchte Kälte umfing ihn, und bald war es so dunkel, dass er seine Hand vor den Augen nicht mehr erkennen konnte. Er streifte seine Kapuzenjacke über und schaltete die Taschenlampe ein. Vielleicht konnte er von hier in das Innere des Kolosses gelangen?
Er entdeckte eine alte Stahltür, die sich bemerkenswert leicht öffnen ließ. Es dauerte nicht lange, bis er einige alte Räume erreichte, die in den Kriegsjahren wohl als Lazarett gedient haben mussten. Alte, verrostete Stahlgerippe, die als Betten gedient hatten, waren Zeugen der Vergangenheit. Er fand auch Reste des damals für die Rüstungsproduktion genutzten Blaupunkt-Bunkers, der in seiner Skizze eingezeichnet war. Die umfangreichen Kelleranlagen hatten einst zu gleichen Teilen den Firmen Blaupunkt, die Röhren herstellte, und Henschel, die Flugzeugteile produzierte, gedient.
Wenger überlegte kurz: Wenn das hier der Blaupunkt-Bunker war, musste er sich also direkt unterhalb der Tribünen befinden. Er
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